WIR SIND NICHT LINA

Kritik des Verfahrens: ja.
Aber: kein Applaus für Scheiße!

„Wir sind Lina!“ Unter diesem Motto finden seit mehreren Tagen wieder Proteste, Geländespiele mit der Polizei und die obligatorischen Fotoshootings mit Pyros, Bengalos und schwarzer Uniformierung statt, an denen auch Albert Speer seine Freude gehabt hätte. Auch wegen dieser fragwürdigen Symbolik und der Ritualisierung müssen wir sagen: Wir sind nicht Lina. Das heißt nicht, dass das Verfahren gegen Lina E. nicht kritikwürdig war. Im Gegenteil, es war eine Farce. Selbst die FAZ, die nicht gerade für ihre Justizkritik bekannt ist, kam nicht umhin zu konstatieren, dass in der Presse eine Vorverurteilung stattgefunden hatte. Auch während des Prozesses schien das rechtsstaatliche Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ außer Kraft gesetzt worden zu sein; die Vertrauenswürdigkeit von Belastungszeugen wurde trotz zahlreicher Hinweise nie ernsthaft angezweifelt. Es entstand zeitweise der Eindruck, als sollten sämtliche politischen Straftaten, die in den letzten Jahren unter weiblicher Beteiligung im Osten Deutschlands begangen wurden, Lina E. zur Last gelegt werden.
Im Verfahren gegen sie fanden mehrere Dinge zusammen: Es war sowohl Resultat der gesteigerten linken Militanz als auch der besonderen sächsischen Verhältnisse, wo polizeiliche Sympathien gegenüber Nazis deutlich stärker ausgeprägt sein dürften als z.B. in Berlin oder Hamburg. Dazu kommen die Legitimationsbemühungen der Soko Linx, die trotz fragwürdiger Entstehungsbedingungen und dürftiger Ermittlungsergebnisse immer wieder unter Beweis stellen will und muss, dass sie wirklich nötig ist. Der Job in der Sonderkommission ist trotz der Langeweile, die bestimmt mit ihm verbunden ist, sicherlich noch aufregender als die Verkehrserziehung von Drittklässlern.
Und trotzdem sind wir nicht Lina. Denn wer soll das sein, dieses „Wir“, das auf allen möglichen Flugblättern, Transparenten und Graffiti beschworen wird? Etwa die Linke? Wenn ja, wer gehört dazu, dass „wir“ ihn als Teil von „uns“ begreifen? Umfasst das „Wir“ auch Stalinisten, die den Großen Terror der Dreißigerjahre rechtfertigen und ihre eigenen politischen Erfolge mit Massenerschießungen feiern würden? Oder Maoisten, die gegenwärtig wieder im Aufwind sind und die Kulturrevolution wiederholen wollen, die mehrere Millionen Tote forderte? Und was ist mit den SED-Rentnern, mit denen die Leipziger Berufsempörte Juliane Nagel das Parteibuch teilt, und die nonkonformistische Jugendliche seinerzeit in den Jugendwerkhof steckten, wo sie misshandelt und oftmals gebrochen wurden, weil sie nicht ins Bild der realsozialistischen Moral passten? Gehören sie zu „uns“ – oder besser: zu euch? Oder ein anderes Beispiel: Verbindet euch mehr mit einem bekennenden Antisemiten und Judenmörder von der PFLP als mit einem vernünftigen Liberalen oder selbst Konservativen, nur weil sich der Antisemit als links versteht und – Militanz ist gerade wieder en vogue – eine Kalaschnikow in seinem Vereinswimpel hat?
Auch wenn er es in einem etwas anderen Zusammenhang bemühte, lässt sich in Anlehnung an eine Notiz Max Horkheimers sagen, dass dieses „Wir“ das zentrale Problem, „das Schlechte“, ist: „Der Unterschied zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv wird eingeebnet…“ Im Namen des „Wir“, das keine Nuancen zulässt – und dessen Gegenbild selbstverständlich nicht der atomisierte Einzelne des modernisierten Arbeitsmarktes sein muss –, sind die meisten der genannten Verbrechen begangen worden.
Solidarität hätte Lina E. nicht zu erhalten, weil sie eine von „uns“ ist, sondern weil ihr einige der grundlegenden Prinzipien rechtsstaatlicher Verfahren verwehrt wurden. Selbstverständlich geben wir uns nicht der Illusion hin, dass das bürgerliche Recht ein Gottesgeschenk an die Menschheit oder Ausdruck des Paradieses auf Erden ist. Es dient selbstverständlich dem Zweck, die Besitzverhältnisse aufrechtzuerhalten. Gerade in seinem Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, weil der freie Austausch auf dem Markt sonst weniger reibungslos funktionieren würde, liegt jedoch ein Überschuss begründet. Er soll nicht allein vor Willkür schützen, was gerade vor dem Hintergrund der Diktaturen der Vergangenheit und Gegenwart oder der deutschen Entwicklungen der letzten Jahre kaum zu überschätzen ist, sondern in ihm ist zugleich die unter den gegenwärtigen Umständen nicht umsetzbare Vorstellung einer Versöhnung von Freiheit und Gleichheit aufgehoben.
Bei aller berechtigten Kritik am Rechtsstaat wären seine Prinzipien auch darum nicht nur gegen das oft bemühte Schlimmere wie Nationalsozialismus, Stalinismus und Islamismus zu verteidigen, sondern bereits gegen ihre stets drohende Aushöhlung. Wer Antifaschismus nicht nur als Parole begreift, mit der er das eigene Krawallbedürfnis legitimiert, sondern als Reflexion auf historische Erfahrung, hätte somit Verteidiger und Kritiker des Rechts in einem zu sein.
Kritik hätte in diesem Zusammenhang nicht nur an Aktivitäten gegen Leute geübt zu werden, die zum „Wir“ gehören, sondern auch an Maßnahmen gegen politische Gegner und andere wenig sympathische Zeitgenossen. Dazu zählen z.B. auch Hooligans, die laut Beschluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vor Fußballspielen schon seit einigen Jahren ohne größeres Pipapo vorsorglich in Polizeigewahrsam genommen werden dürfen, oder sogenannte Querdenker, wenn ihre Grundrechte willkürlich und massiv eingeschränkt werden. Stattdessen beschwert sich die Linke regelmäßig über gegen sie gerichtete Repressionen, um sich im nächsten Augenblick an den Staat zu wenden und an ihn zu appellieren, die Grundrechte von Nazis und anderen unliebsamen Leuten einzuschränken und sie doch bitte, bitte härter zu bestrafen. Sie hat, ähnlich wie der herkömmliche Stammtischbruder, nichts gegen die Rückbildung des Rechtsstaates, die Rücknahme von Freiheitsrechten und möglichst hohe Strafen, wenn es nur die Richtigen und nicht den eigenen Haufen trifft.
Ohnehin scheint es bei den Protesten gegen das Verfahren gegen Lina E. und ihre Mitangeklagten vor allem um die Verteidigung der eigenen Gang gegen den als größere Gang begriffenen Staat samt seiner Polizei zu gehen. Wäre es anders, dann wäre in den letzten drei Jahren nämlich auch etwas anderes thematisiert worden, und zwar das erschreckende Ausmaß an Gewalt, das auch zu den Hintergründen des Prozesses gehört – ganz egal, ob Lina E. und ihre Mitangeklagten nun dafür verantwortlich waren oder nicht. (Wir beteiligen uns nicht an den szeneinternen Spekulationen und Gerüchten, die bisweilen den Charakter von Klatsch und Tratsch annehmen.)
Um gar nicht erst Missverständnisse aufkommen zu lassen: Unser Mitleid mit Nazis, die im Rahmen antifaschistischen Selbstschutzes in ihre Schranken verwiesen werden, hält sich in engen Grenzen. Wir stehen militantem Antifaschismus trotz aller Kritik der Gewalt nicht nur kritisch gegenüber. Dafür kennen wir insbesondere die Verhältnisse in den ländlichen Gegenden des Ostens zu gut – und dazu können wir uns noch zu gut an frühere Zeiten erinnern. Wer aber gezielt mit Hämmern auf Wehrlose einschlägt, wie es in den letzten Jahren nicht nur in den Fällen vorkam, für die Lina E. angeklagt wurde, betreibt allerdings keinen antifaschistischen Selbstschutz; noch nicht einmal offensiven. Er nimmt vielmehr billigend in Kauf, dass sein Opfer dabei stirbt: Schädel halten der Bearbeitung mit schwerem Metall nicht lange stand, das weiß jeder, auch wenn er sonst nichts weiß. Zugleich ist das Vorgehen mit Hämmern Zeichen einer Brutalisierung und Verrohung, wie wir sie zumindest aus den hiesigen Breitengraden bisher nur von Nazis oder Angehörigen des organisierten Verbrechens kannten, die, glaubt man den einschlägigen Mafiafilmen, ebenfalls gern auf Hämmer zurückgreifen, um ihre Opfer zu erledigen.
Dieses Vorgehen wurde in der linken Szene jedoch nicht deshalb kritisiert, weil es sich einfach verbietet, mit einem Hammer auf einen Menschen einzuschlagen, sondern, wenn überhaupt, nur, weil dadurch ein höherer Ermittlungs- und Verfolgungsdruck durch die Polizei entstehe. Vielfach wurde sich sogar positiv auf die Brutalisierung bezogen, für die diese Taten stehen, so u.a. auf Transparenten, die für Antifaschismus warben und mit einem Hammer verziert waren, dem Schriftzug, dass Solidarität „der Hammer“ sei oder der augenzwinkernden Aussage, dass Antifa-Arbeit „hammergeil“ sei.
Dass die Kritik ausblieb und die immer noch fassungslos machende Verrohung im Gegenteil gefeiert wird, zeigt zugleich einen Unterschied zu einigen früheren Debatten über Militanz an. Nachdem die RAF 1977 den Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet hatte, schrieb ein undogmatischer Linker unter dem Pseudonym Mescalero einen Nachruf auf Buback, der breite Diskussionen auslöste. Darin bekannte er, dass er angesichts des Anschlags zunächst eine „klammheimliche Freude“ empfunden habe. Seine sofort darauffolgenden Überlegungen hätten jedoch ausgereicht, sein „inneres Händereiben zu stoppen“. Denn – so eins der vielen Argumente – der Zweck, „eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt“ zu schaffen, heilige „eben nicht jedes Mittel“. „Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.“
Das scheinen nicht unerhebliche Teile der linken Szene inzwischen anders zu sehen. Es ist sogar zu bezweifeln, dass es ihnen tatsächlich noch um „eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt“ geht: Nur weil man sich den ohnehin längst entwerteten Begriff der Emanzipation auf den Hammer malt, bedeutet das nicht, dass einem auch tatsächlich daran gelegen ist.
Diese Entwicklung hat viele Gründe, einer steht jedoch mit der Krise der Antifa in Verbindung, die seit vielen Jahren anhält. Genau betrachtet, ist der linke Antifaschismus an seine Grenzen gestoßen. Spätestens seit den Zweitausenderjahren ist er zutiefst staatstragend, zumindest wenn man den Blick von Sachsen löst und die Bundesrepublik als Ganzes betrachtet. Es gibt im Unterschied zu den Neunzigerjahren keine größere etablierte Partei und keine namhaften Politiker mehr, die sich nicht positiv auf den Antifaschismus beziehen, sich lautstark „gegen Rechts“ bekennen und die Bekämpfung von Neonazis für wichtig erachten. Auf allen Kanälen, von Jan Böhmermann bis zur Heute Show, wird erklärt, wie schlimm Neonazis und die AfD seien. In Sachsen-Anhalt wurde der Antifaschismus 2020 sogar ganz offiziell in die Verfassung aufgenommen und zum Staatsziel erklärt.
Um sich überhaupt noch von diesem staatstragenden Antifaschismus abgrenzen zu können, muss die Antifa in die Bereiche von Sprache und Mittel ausweichen. Will heißen: Die verstärkte linke Militanz und der Verbalradikalismus der letzten Jahre sind nicht zuletzt dem Versuch geschuldet, sich doch noch von der Anti-Nazi-Agitation des Staates und seiner Zivilgesellschaft zu unterscheiden. Da es inhaltlich nur wenige Differenzen gibt, bleibt nur die Gewalt.
Das dürfte auch einer der zentralen Gründe für die immense Solidarität sein, die Lina E. entgegengebracht wird. Mit der Parole „Wir sind Lina!“ kann man sich vormachen, trotz aller Affirmation nicht nur kritisch und staatsfeindlich zu sein, sondern dafür auch noch verfolgt zu werden. Aus dem Verfahren und der mit ihm verbundenen Solidaritätskampagne zieht man nicht nur eigene Bedeutung, sondern auch die immer wieder gepriesene Differenz, die es kaum noch gibt.

AG „No Tears for Krauts“
06/2023

#wirsindnichtlina