21st Century Schizoid Country. Das Nachleben des Nationalsozialismus

Das Veranstaltungsprogramm der AG Antifa (Winter 2019/2020)

OCT24 We don’t need no education.Erfahrungen aus d. beruflichen Praxis im Umgang mit dem Islam 

NOV5 Zur Kritik der politischen Ökologie.

NOV28 Die politische Sozialisation Wolfgang Pohrts 

DEC12 Die Sehnsucht nach der Unfreiheit 

DEC20 „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.“ (W. Benjamin) 

JAN30 The End of the World as We Know It. Zum Aufstieg des Populismus 

Auf der Website der AG Antifa kann der Einleitungstext zum Semesterprogramm nachgelesen werden:

21st Century Schizoid Country.
Das Nachleben des Nationalsozialismus

Jahrestage sind kulturindustrielle Ereignisse, an denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit Sondersendungen nervt, Festreden gehalten werden und Historiker die Möglichkeit erhalten, ihre neuesten Schreibversuche unter die Leute zu bringen. Sie können jedoch gelegentlich auch die Möglichkeit zur kritischen Bestandsaufnahme bieten. Aus diesem Grund nutzen wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls, um noch einmal die Frage nach dem Nachleben des Nationalsozialismus aufzuwerfen, die seinerzeit intensiv diskutiert wurde.

„Es liegt an uns zu diktieren, wie ’ne Gesellschaft auszusehen hat.“
Herbert Grönemeyer, Musikdiktator

Vor 30 Jahren, in der Zeit des Mauerfalls und der deutschen Wiedervereinigung, schien die Lage der Nation allen Wirrnissen zum Trotz übersichtlich. Wer die damaligen Ereignisse als Ausdruck des kapitalistischen Normalbetriebs (Produktivitätssteigerung, Effektivität usw.) zu interpretieren versuchte, blamierte sich an der Realität. Die Landsleute folgten weniger dem Ruf des Marktes als dem von Blut, Boden, Heimat, Scholle und Tradition. Die Bundesbürger banden sich mit den fünf neuen Ländern gerade ein ebenso unproduktives wie technisch und infrastrukturell zurückgebliebenes Gebiet ans Bein, das den Staatshaushalt über Jahrzehnte hinweg belasten sollte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl weigerte sich über Wochen hinweg, die Oder-Neiße-Grenze zu Polen anzuerkennen. Und den unzähligen Nazihorden, die damals insbesondere im Osten der Republik zur Jagd auf Ausländer, Linke, Schwule und Juden bliesen, wurde fast überall mit Verständnis begegnet: Immerhin hätten sie eine schwere Kindheit gehabt, wenig Liebe erfahren und keine Jugendclubs für die Dinge zur Verfügung, die Jugendliche eben so tun. Nicht nur der Terror, sondern auch die Nachsicht, die den Jungnazis entgegengebracht wurde, schreckte über Jahre hinweg zahllose ausländische Investoren ab.
Von der Nazivergangenheit wollte man hingegen kaum noch etwas wissen. Franz Josef Strauß’ alter Satz, dass eine Nation, die „solche wirtschaftlichen Leistungen“ erbracht habe, das Recht besitze, nichts mehr von Auschwitz wissen zu wollen, wurde zur heimlichen Parole der Zeit. Insbesondere auf dem Balkan knüpfte Deutschland dagegen an genau die Vergangenheit an, von der nicht mehr gesprochen werden sollte. Gegen den Willen der damaligen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und Amerika unterstützte die Bundesrepublik die Bündnispartner von einst, forcierte die Separationsbemühungen Kroatiens und Sloweniens und trug damit zum Ausbruch der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien bei. Die Region wurde nachhaltig destabilisiert.
Zwar gab es Anfang der 1990er Jahre auch gegenläufige Entwicklungen. Mit den Lichterketten protestierten 1992 Hunderttausende gegen die Morde von Mölln; im gleichen Jahr wurde damit begonnen, neonazistische Organisationen wie die Nationalistische Front (NF) zu verbieten. Dennoch war es eindeutig: Der Nationalsozialismus lebte nicht nur am äußersten Rand der Gesellschaft fort.

30 Years after
30 Jahre später ist die Lage komplizierter geworden. Zwar existiert mit der AfD nach Jahren der Abstinenz wieder eine große Partei weit rechts der Mitte. Sie gräbt nicht nur den etablierten Parteien das Wasser ab, sondern, ähnlich wie die CSU, die CDU und die FDP der 1950er Jahre, denen sie ohnehin mehr ähnelt als der NSDAP, den rechten, faschistischen und neonazistischen Klein- und Kleinstorganisationen. Dennoch erscheint die AfD fast als das Normalste an Deutschland: In Europa gibt es kaum ein Land, in dem sich in den letzten Jahren keine populistische Partei neuen Typs herausgebildet hat, die gegen die etablierten Parteien angeht, die EU kritisiert und die Zuwanderung begrenzen oder stoppen will. Durch ihre ständigen, teilweise absurd anmutenden Versuche, sich zum Nationalsozialismus ins Verhältnis zu setzen – erinnert sei an Gaulands „Vogelschiss“-Rede, an Höckes Goebbels-Folklore und an den Erfolg ihres völkischen Parteiflügels im Osten –, zeigt die AfD dennoch, dass sie nicht von der Vergangenheit lassen kann.
Der Rest des Landes gibt sich hingegen weltoffen, tolerant und freundlich. Jenseits des rechten Randes scheint sich Deutschland in ein ganz normales westliches Land verwandelt zu haben. Berlin ist die Partyhauptstadt Europas; die absolute Mehrheit der Deutschen lehnt Rassismus und Diskriminierung ab; die Einführung der Homosexuellenehe traf auf wesentlich weniger Widerstand als in einigen anderen europäischen Ländern; Bockwurst, Eisbein, Sauerkraut und der röhrende Hirsch, die gern unter Faschismusverdacht gestellt werden, sind längst durch Thaifood, Pizza, Döner und Kandinsky ersetzt worden. Die Bundesbürger haben sich in Sachen Konsum, Essgewohnheiten, Fernsehvorlieben usw. mit anderen Worten an ihre Nachbarn angeglichen.
Bei genauer Betrachtung der Politik, des Alltags oder der Familienerzählungen wird jedoch deutlich, dass auch das zivilisierte Deutschland noch immer durch einen Graben von der westlichen Welt getrennt ist. Auschwitz ist weiterhin Basis und Fundament der Bundesrepublik – und diese Basis wälzt sich, wie Gerhard Scheit vor vielen Jahren geschrieben hat, nicht um. Der Zugang zu ihr ist nur umständlicher geworden. Er erfolgt nicht mehr direkt, sondern über Umwege und Umleitungen.

Opa war in Ordnung
Das wird nicht zuletzt an den Familienerzählungen deutlich. So ist die Familie zwar keineswegs, wie es in vulgär-antiautoritären Kreisen gern in Anlehnung an Erich Fromm heißt, ausschließlich die „Keimzelle des Staates“. Aber sie ist es auch. Hier ist ein eigentümliches Auseinandertreten zu beobachten. So gibt das Gros der Deutschen zwar an, sich für die Vergangenheit zu „interessieren“; die absolute Mehrheit der Landsleute erkennt die deutsche Schuld am Nationalsozialismus, am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust umstandslos an. Die Familiengeschichte wird hiervon jedoch fast komplett abgelöst. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass die eigenen Groß- oder Urgroßeltern etwas mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu tun hatten. „Opa war kein Nazi“ – dieser Buchtitel gibt den Blick der Deutschen auf ihre Familiengeschichte prägnant wieder. So sind etwa zwei Drittel der Landsleute, wie eine Umfrage der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft jüngst ergab, der Meinung, dass es unter ihren Vorfahren keine „Täter des Zweiten Weltkrieges“ gegeben habe; rund ein Fünftel geht sogar davon aus, dass sie potenziellen Opfern geholfen hätten. Mehr als die Hälfte glaubt, dass Oma, Opa und Co. „Opfer des Zweiten Weltkrieges“ gewesen seien.
Dieser entschuldende Blick auf die Familiengeschichte wird durch einen Ebenenwechsel mit dem Wissen um die deutsche Schuld vermittelt. Schuldig erscheinen nicht mehr konkrete Menschen, sondern, wie die Sozialwissenschaftlerin Melanie Tatur jüngst festgestellt hat, Ideen, Systeme und Vorstellungen: Rassismus, Krieg usw. Die konkrete Schuld wird ins Abstrakte verlegt und damit anonymisiert.
Diese Herangehensweise bietet die Möglichkeit, auch weiterhin das fast anthropologisch erscheinende Bedürfnis auszuleben, sich mit zwei der zentralen gesellschaftlichen Instanzen zu identifizieren, das durch Auschwitz mindestens behindert wird. So hat der Holocaust nicht nur die Nation, sondern vielfach auch die Familien affiziert: Es gibt kaum eine deutsche Familie, die nicht zumindest in vermittelter Weise an der Vernichtung beteiligt war, sei es durch Dienst in der Wehrmacht, Arisierungsgewinne oder kriegswichtige Arbeit. Selbst die kleinste Textilfabrik trug durch ihre Lieferungen an die Wehrmacht dazu bei, dass im Rücken der Front Auschwitz betrieben werden konnte.
Das Bedürfnis nach positivem Bezug auf die Familie und ihre Geschichte geht darauf zurück, dass sie nicht allein Zurichtungsanstalt für Staat und Kapital ist, sondern auch Rückzugsraum, Ort von Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit sein kann. Sie ist – unmittelbar damit verbunden (und trotz aller Konflikte, innerfamiliären Differenzen und Brüche) – zugleich aufs Engste mit den ersten Bindungspersonen, den frühesten Sehnsüchten nach Liebe, Anerkennung, Kontinuität und Beachtung verbunden. Um den daraus resultierenden positiven Bezug auf die Familie und ihre Geschichte aufrechterhalten zu können, der den Einzelnen zudem gerade in Zeiten des durch Hartz IV organisierten Rückwurfs auf Verwandtschaftsverhältnisse nötiger denn je erscheint, wird die konkrete Schuld der eigenen Vorfahren verdrängt; ihre Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus wird in ein Opferdasein umgelogen. Der Drang nach Identifikation mit Staat und Nation basiert hingegen nicht zuletzt darauf, dass sie nicht nur, wie es gern von Linksaußen heißt, Repressionsinstrumente sind, sondern qua Zugehörigkeit auch Schutz, Fürsorge, Hilfe und Unterstützung bieten, deren Entzug zu Armut und Elend, im schlimmsten Fall sogar zum Tod führen kann: Der Staat organisiert die Rahmenbedingungen des Verwertungsprozesses, dem alle auf Verdeih und Verderb ausgesetzt sind.
Die über die Vergangenheit vermittelte Verhältnisbestimmung zu Staat und Nation ist in den letzten Jahren komplizierter geworden. Auch hier wird nicht nur verdrängt, sondern zugleich verschoben: weg vom Ereignis, hin zu seiner Aufarbeitung. So eröffnet die Verlagerung der Schuld auf Ideen (1.) nicht allein die Möglichkeit, nicht mehr über die konkrete Beteiligung von Menschen an der Vernichtung zu sprechen, sondern auch Institutionen und Staatsorgane auszusparen. Auch deshalb werden zwar auch in Zukunft weiterhin Denkmäler und Museen errichtet werden; angemessene Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter oder Länder, in denen die Deutschen gewütet haben, werden dagegen wohl auch weiter ausbleiben. (2.) bietet die Verschiebung der Schuld von konkreten Menschen und Institutionen auf Ideen und Prinzipien die Gelegenheit, den Nationalsozialismus nicht mehr als ultimative Katastrophe der Nationalgeschichte wahrzunehmen. Die Vertreter der alten Erinnerungskultur, zu denen in gewisser Weise auch der Ex-CDUler Gauland mit seiner „Vogelschiss“-Rede gehört, sahen sich noch dazu genötigt, den Nationalsozialismus und den Holocaust zu relativieren: Weil sie der ersehnten Identifikation mit der Nation im Wege standen, wurde geleugnet oder kleingeredet. Dem neuen Deutschland wird Auschwitz hingegen zur Quelle des Selbstverständnisses. Der Holocaust, so erklärte der ehemalige Außenminister Joschka Fischer dementsprechend vor einigen Jahren in einem Gespräch mit Bernard-Henri Lévy, sei für Deutschland so identitätsstiftend wie der Unabhängigkeitskrieg für die Amerikaner und die Revolution von 1789 für die Franzosen. Durch die Abstraktion von der Beteiligung konkreter Menschen kann aus historischer Schuld Verantwortung für die Zukunft werden. „Die deutsche Geschichtspolitik der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ hat“, wie Tatur schreibt, „auf der Ebene der offiziellen Erinnerung und der informellen Familiengeschichte konkrete Schuld und Verantwortung durch eine abstrakte Verpflichtung gegenüber Ideen und moralischen Werten und Prinzipien ersetzt.“ Aus konkreter Verantwortung ist eine „generalisierte ‚moralische Verantwortung‘“ bzw. eine „abstrakte Verpflichtung gegenüber Ideen und moralischen Werten und Prinzipien“ geworden. Auschwitz erscheint so als Conditio sine qua non der Vergangenheitsbewältigung; der „historisch beispiellose Mord an Millionen von Menschen“, als den inzwischen auch Angela Merkel den Holocaust bezeichnet, wird zur Voraussetzung für die „historisch beispiellose“ Aufarbeitung der Geschichte, mit der sich das neue Deutschland schmückt.

Moralischer Geltungsdrang
Wie so oft, wenn verdrängt, verschoben oder geleugnet wird, verzettelt sich das kollektive Bewusstsein auch im Fall des neuen Deutschlands in Widersprüche, die nicht aufgelöst werden können. Das Verdrängte, Verschobene oder Verleugnete kehrt in verpuppter Form, am falschen oder widersinnig erscheinenden Ort wieder, teilweise sogar in seinem Gegenteil. Der Historiker Dan Diner hat diesen Vorgang mit Blick auf den inzwischen staatstragenden Antifaschismus und seine Kammerjägerrhetorik („Deutschland von Nazis säubern“, „Nazismus ausmerzen“, „Hetzjagd auf Nazis“ usw.) vor vielen Jahren auf den psychoanalytischen Begriff des Kontraphobischen gebracht. Was man, „um einem möglichen Wiederholungszwang zu entgehen, floh, setzt sich symbolisch in der Vermummung seines vorgeblichen Gegenteils durch“. Wer bei der Antifa war, weiß, was gemeint ist: Da gab es immer diejenigen, die die Uniformen der verschiedenen Wehrmachtsverbände besser auseinanderhalten konnte als ein General der Obersten Heeresleitung, die jedes Lied von „Landser“ auswendig konnten und nichts außer Naziheftchen lasen – selbstverständlich nur aus Recherchegründen.
So ist es paradoxerweise gerade die spezifisch deutsche Form des Bruchs mit der Vergangenheit, in der diese Vergangenheit wesentlich stärker fortlebt als in den Spinnereien des rechten Rands. Das betrifft nicht zuletzt die Konzentration auf Ideen. Mit ihr wird an eine spezifisch deutsche Geistestradition angeknüpft: Helmuth Plessner hat den Drang der Landsleute, sich und ihre Nation über abstrakte Ideen und Ideologien zu bestimmen, vor vielen Jahren auf den Prozess der „verspäteten Nationsbildung“ zurückgeführt. Vor allem aber spiegelt sich das Fortleben deutscher Traditionen in der besonderen Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Geltungsdrang wieder, mit der Deutschland seit einigen Jahren wieder im internationalen Rahmen auftritt. Anders als einst basiert das deutsche „Wesen“, an dem die Welt genesen soll, jedoch nicht mehr auf Ordnung, Fleiß, Sauberkeit, sondern auf dem Glauben an eine besondere moralische Auserwähltheit. Auch hier heißt der Dreh- und Angelpunkt Auschwitz. Aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat sich der einstige Makel der Nationalgeschichte in einen Standortvorteil in Sachen Wiedergutwerdung verwandelt. Weil das Verbrechen so monströs war, verdient nicht nur seine Aufarbeitung besondere Anerkennung, wie es der Historiker Eberhard Jäckel vor vielen Jahren zum Ausdruck brachte: Er behauptete voller Stolz, dass Deutschland von vielen anderen Ländern um das Holocaust-Mahnmal in Berlin beneidet werde. Aufgrund der doppelten Mammutleistung aus Verbrechen und Aufarbeitung sehen sich die Landsleute zugleich dazu befähigt, als Lehrmeister in Sachen Menschenrechte, Geschichtspolitik und politische Integrität aufzutreten. „Aus dem Bekenntnis zur eigenen Scham“, so schrieb Hermann Gremliza bereits am Beginn dieser Entwicklung, „soll den Deutschen das Recht erwachsen, an anderen moralisch Maß zu nehmen.“

Allgemeine Mobilmachung
Die gesellschaftlichen Massenmobilisierungen, die nach einer Phase der Abstinenz seit einigen Jahren wieder stattfinden, gehen nicht zuletzt auf dieses inzwischen frei flottierende moralische Überlegenheitsgefühl zurück. Zwar spiegelt sich in ihnen auch das veränderte Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Freizeit und Produktion wider. Die Dynamisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt setzt sich nicht nur in Deutschland in der stetigen Bereitschaft zur ständigen Erreichbarkeit, zum permanenten Einsatz und zum stetigen Bürgerengagement fort. Hierzulande haben sie jedoch eine besondere Tradition: In der Krise des Etatismus scheinen gerade diejenigen Momente des Nationalsozialismus reaktiviert zu werden, die besonders „modern“ und ihrer Zeit voraus waren: das Abstellen auf die Unmittelbarkeit von Herrschaft, eine breite Bürgerbeteiligung und einen äußerst flexiblen Selbstverwaltungsapparat, der gerade dadurch zu seiner mörderischen Effizienz gelangte, dass er weder durch langwierige Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse noch durch das Warten auf explizite Führerbefehle gehemmt wurde – sondern den Führer- und Volkswillen erahnen und in Eigeninitiative in die Tat umsetzen konnte.
Ganz in diesem Sinn ist das Bürgerengagement in Deutschland deutlich überdeterminiert. Während man sich in anderen Ländern nicht scheut, offen für individuelle und kollektive Interessen einzutreten – erinnert sei an die französischen Gelbwesten und an die Parole „America first!“ –, ist ein solches Vorgehen in Deutschland noch immer verpönt. Werden eigene Interessen verfolgt, dann werden sie regelmäßig durch vermeintlich höhere Ziele kaschiert: Der deutsche Bürger, so schrieb Karl Marx 1845 in einem seiner Aufsätze über die „deutsche Ideologie“, als würde er das gegenwärtige Engagiertenkartell von Herbert Grönemeyer über Juli Zeh bis hin zu Heiko Maas kennen, „scheut sich, von schlechten Tauschwerten, nach denen er lungert, zu sprechen und spricht von Produktivkräften, er scheut sich, von Konkurrenz zu sprechen, und spricht von einer nationalen Konföderation der nationalen Produktivkräfte“.
Nicht selten wird sogar ganz aufs materielle Interesse verzichtet. Eine größere Anziehungskraft als Proteste gegen die Erhöhung von Benzinpreisen, größere Kosten für Kindergartenplätze oder gegen Zeitarbeitsverträge übt das Engagement für übergeordnete moralische Ziele aus. Unter der Rettung des Landes, des Planeten oder des Universums tut man’s hierzulande nur ungern – seien es überdimensionierte Aufmärsche für den Frieden wie vor einigen Jahren, als sich die Bevölkerung mit ihrer Regierung einig wusste, seien es Massenaufläufe gegen rechts, wenn Tausende, wie jüngst in Kassel, gegen die Minikundgebung einer 30-Mann-Truppe auf die Straße gehen, oder seien es Proteste gegen den Klimawandel, die zwar längst keine deutsche Spezialität mehr sind, hierzulande aber dennoch um ein Vielfaches überdrehter daherkommen als in anderen Staaten – auch aufgrund der eklatanten Übereinstimmung von Regierung und Bevölkerung: So gibt es sicher kein anderes Land, in dem Staatsbedienstete von ihren Dienstherren dazu aufgefordert werden, sich an den Protesten zu beteiligen und hierfür teilweise sogar die Kernarbeitszeit ausgesetzt bekommen. Hier dürfte auch einer der zentralen Unterschiede zu Frankreich liegen. Dort sind die Klimaproteste zwar ebenfalls gut besucht, zugleich tritt Macron in Anlehnung an Deutschland für ein stärkeres Umweltbewusstsein ein. Dennoch beschweren sich französische Klimaschützer darüber, dass die Proteste westlich des Rheins nicht so recht verfangen und trotz allen Beifalls keine größere Kontinuität aufweisen würden. Hierfür wird zum einen das rigide französische Schulsystem verantwortlich gemacht: Während deutsche Lehrer regelmäßig für die Teilnahme an den Demonstrationen trommeln, werden unentschuldigte Fehltage in Frankreich auch dann hart bestraft, wenn sie unter der Parole der Zukunft stattfinden. Zum anderen ist die Identifikation der Bürger mit dem Staat in Frankreich immer noch geringer als in Deutschland. Auch die Artikulation eigener Interessen ist weiterhin deutlich weniger schlecht angesehen als hierzulande. So erklärte eine französische Klimaaktivistin erst kürzlich, dass sie aus organisatorischen Gründen keine wöchentlichen Freitagsdemos organisieren würden: „Wir haben einfach nicht genügend Leute, die sich in den Ortsgruppen engagieren. Zwar sagen uns viele Jugendliche: Das ist super, was ihr da macht. Dann sage ich: Dann komm, schließ dich uns an.“ Die Antwort laute dann meistens, dass sie keine Zeit hätten. Genau die Überdeterminierung, die hierzulande regelmäßig zu beobachten ist, dürfte dementsprechend Teil der Antwort auf die Frage sein, was heute deutsch ist: Allgemeine, keineswegs auf Deutschland beschränkte Entwicklungen werden zugespitzt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt, bis die herrschende und bereits irrationale Züge tragende instrumentelle Vernunft vollends ins Irrationale umschlägt.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Die Wiederkehr der Vergangenheit am vermeintlich unpassenden Ort und die nicht aufzulösenden Widersprüche, in die sich das kollektive Bewusstsein regelmäßig verstrickt, lassen das Agieren der Landsleute regelmäßig an das Verhalten von Schizophrenen erinnern. Das beste Beispiel ist das Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel, dem Staat der Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik: Abgesehen von den östlichen EU-Mitgliedern gibt es zwar kein Gemeinwesen innerhalb der Union, das sich so offen zum jüdischen Staat bekennt wie Deutschland. So sorgt Angela Merkels bekannter Ausspruch von 2008, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson sei, jenseits des Lunatic fringe der Linkspartei darüber hinaus kaum für Empörung. Zugleich gibt es jedoch kaum ein Land der Welt, das so enge Wirtschaftsbeziehungen zu den größten Feinden des jüdischen Staates unterhält wie die Bundesrepublik. Das gilt insbesondere für den Iran, der sich offen dazu bekennt, Israel vernichten zu wollen, und die Palästinensische Autonomiebehörde, die ihre Untergebenen regelmäßig zum Judenmord aufruft. Das deutsche Außenministerium hält sich nicht nur auffallend mit der Kritik des Mullah-Regimes und der palästinensischen Behörden zurück, sondern hofiert sie geradezu: Nach Angaben des UN-Hilfswerkes für die Palästinenser gab 2018 kein Land mehr Geld an sie ab als Deutschland. Mit etwa 177 Millionen US-Dollar ist die Bundesrepublik der zweitgrößte Spender und muss sich nur ganz knapp der EU geschlagen geben – die sie allerdings ebenfalls mitfinanziert. Mit diesen Geldern wird der Terror finanziert, werden Renten an die Familien von Selbstmordattentätern gezahlt und wird antisemitische Propaganda subventioniert. Ähnlich verhält es sich mit dem Iran. Im Wirtschaftsjahr 2016 war Deutschland weltweit noch fünftgrößter Exporteur ins Mullahregime, 2017 wurde es laut Ranking der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) drittgrößter Handelspartner. Unter den EU-Staaten steht es an der Spitze. Das Auswärtige Amt, dessen Chef gern damit kokettiert, „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen zu sein, liefert damit nicht nur eins von vielen Beispielen für den Wunsch, mit der Vergangenheit zu brechen, und die Unfähigkeit, von ihr loszukommen. Es lässt zugleich erahnen, was Freud einst, wenn auch mit Blick aufs Individuum, mit dem Begriff des Wiederholungszwangs zu fassen versuchte.

Die Flüchtlingskrise: Ein Lehrstück in Sachen deutscher Sonderweg
Am deutlichsten wurde das Nachleben des Nationalsozialismus in den letzten Jahren jedoch ausgerechnet an dem Ereignis, das wie kein zweites als Bruch mit der Vergangenheit präsentiert wurde. Die Rede ist von der Flüchtlingskrise des Sommers 2015. Der Sozialdemokrat Heinrich August Winkler, Anhänger westlicher Werte und Historiker der Westernisierung, sprach völlig zu Recht von einem „illegitimen deutschen Alleingang“. So wurde die Entscheidung, das Dublin-Abkommen außer Kraft zu setzen, mit dem die Bundeskanzlerin im September 2019 aufwartete, ohne jede Rücksprache mit dem Bundestag oder den Verbündeten getroffen. Die europäischen Regelungen, auf deren Einhaltung Deutschland stets großen Wert gelegt hatte, wurden ohne Konsultation der Partner außer Kraft gesetzt. Sämtliche im Ausland bald formulierten Bedenken wurden ignoriert: Angesichts der hunderttausenden Flüchtlinge, die auf deutschen Wunsch auf der Balkanroute durchgewunken wurden und teilweise nach Skandinavien oder Westeuropa weiterreisen wollten, sahen sich Dänemark, Frankreich und schließlich auch Schweden dazu gezwungen, ihre Grenzen zumindest zeitweise zu schließen. Ärmere, stärker von Deutschland abhängige Länder wie Mazedonien oder Slowenien wurden hingegen von Berlin genötigt, ihre Grenzen offen zu halten. Bald versuchte die Bundesregierung, die sich jahrelang gegen die Verteilung von Flüchtlingen in den EU-Mitgliedstaaten gesperrt hatte, ihren Partnern einen Verteilungsschlüssel für diejenigen aufzuzwingen, die sie ohne Absprache und unter Umgehung der Dublin-Regeln selbst hatte einreisen lassen.
Aber auch im innenpolitischen Rahmen wurden Bedenken geäußert. Sie waren keineswegs nur fremdenfeindlich motiviert, sondern oft auch sicherheits- und sozialpolitisch. Gewarnt wurde insbesondere vor dem Aufstieg der AfD, die seinerzeit in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden schien, der Zerrüttung des bisherigen Parteiensystems, der Zunahme von Konflikten innerhalb der EU und, last but not least, der Umkehrung der bisherigen Integrationsprozesse. Wer Hannah Arendt gelesen hat, weiß, dass die Dritte Französische Republik in den 1930er Jahren u.a. an der massenhaften Einwanderung von Flüchtlingen zerbrach. In dem Augenblick, in dem „nicht mehr einzelne, verfolgte Individuen über die Grenze kamen, sondern ganze Volkssplitter“, so heißt es in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft, sei nicht nur das Asylrecht zusammengebrochen, sondern auch die Integration wurde rückgängig gemacht. „Denn in allen Fällen, wo eine Flüchtlingswelle auf Angehörige der gleichen Nationalitäten im fremden Lande traf – wie die Armenier und Italiener in Frankreich etwa –, setzte eine De-Assimilierung der schon länger ansässigen Fremden ein, schon weil ihre Hilfe und Solidarität nur mit Berufung auf die gleiche Nationalität mobilisiert werden konnte.“ Aus diesem Grund hätten 10.000 italienische Flüchtlinge genügt, „um die Million italienischer Immigranten in Frankreich an einer Assimilation zu hindern und das Nationalbewusstsein in ihnen wieder zu wecken“.
All diese Einwände wurden im Sommer 2015 kurzerhand vom Tisch gewischt. Dies geschah im besten Glauben an die eigene moralische Überlegenheit, den die Bundesregierung mit weiten Teilen der Bevölkerung teilte. So war die Grenzöffnung nicht allein, wie inzwischen gern suggeriert wird, „Merkels Entscheidung“, sondern die Entscheidung der Kanzlerin fand vor dem Hintergrund einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung zur Aufnahme von Flüchtlingen statt. Noch kurz vor dem Beginn der Flüchtlingskrise war selbst von CDU-Verbänden, der Bild-Zeitung, aber auch vom Spiegel kritisiert worden, dass die Kanzlerin zu wenig Empathie in Flüchtlingsangelegenheiten gezeigt und noch kein Flüchtlingsheim besucht habe. Wenige Wochen später wartete Bild sogar mit einer Kampagne und Stickern mit der Aufschrift „#refugees welcome, Wir helfen!“ auf; auch viele CDU-Mitglieder begriffen sich als Teil der Willkommenskultur.
Die Deutschen, die die Sonderzüge mit den erschöpften Flüchtlingen tanzend, jubelnd und vor Freude weinend begrüßten, waren dabei vor allem von sich selbst ergriffen. Sie waren davon begeistert, wie hilfsbereit, freundlich, antirassistisch und weltoffen sie waren. Dabei war kaum zu übersehen, dass sich hinter der Euphorie auf den Bahnsteigen oder in den eilig eingerichteten Koordinationszentren eine Mischung aus Untergangssehnsucht und Erlösungswunsch verbarg. Denn auch damals war niemand so naiv zu glauben, dass eine Million teilweise traumatisierter, vor allem islamisch, sprich: antiwestlich, patriarchal usw. geprägter Flüchtlinge (zeitweise war von drei Millionen die Rede) aus Bürgerkriegsregionen das Zusammenleben freundlicher, friedlicher und angenehmer macht. Durch die Griechenlandkrise, die die Bundesbürger bis dahin beschäftigt hatte, war zudem deutlich geworden, dass eine Nationalökonomie nicht unendlich belastbar ist. Wer sich angesichts dieser Aussichten dennoch so euphorisch verhält wie die Landsleute, fiebert bewusst oder unbewusst härteren Zeiten entgegen. Er bringt den gelegentlichen Wunsch des Bürgers zum Ausdruck, den ganzen Krempel, der das Leben angenehmer, schöner und leichter gestaltet, aber eben auch einengt, über Bord zu werfen und Tabula rasa zu machen.
Noch offensichtlicher war der unmittelbar damit verbundene Wunsch nach Erlösung. Erlöst werden wollten die Deutschen von vielem, vor allem aber von der Vergangenheit, als deren Antithese die Willkommenskultur inszeniert wurde. Die Kanzlerin freute sich noch zurückhaltend darüber, dass Deutschland ein „Land der Hoffnung und der Chancen“ wäre, was „nun wirklich nicht immer so“ gewesen sei. Der Spiegel, der Bundespräsident und andere sprachen hingegen offensiv von einem „hellen Deutschland“, das mit der Vergangenheit gebrochen habe und sich zudem vom „dunklen Deutschland“ in Heidenau oder Schneeberg unterschied: „Es gibt ein helles Deutschland,“ so Joachim Gauck, „das sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerberunterkünfte oder gar fremdenfeindlichen Aktionen gegen Menschen hören!“ Die Flüchtlinge erschienen dabei als Wiedergänger der jüdischen Flüchtlinge der 1930er und 1940er Jahre, die nun nicht mehr vor Deutschland flohen, sondern hier aufgenommen wurden. Gelegentlich wurden sie auch als Nachfolger der deutschen Vertriebenen aus dem Osten gehandelt, die kurzerhand in die große Reihe der Opfer von Unmenschlichkeit, Rassismus und Krieg eingereiht wurden.
Doch nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von den Problemen der Zukunft sollten die Flüchtlinge die Deutschen erlösen. Als würden ausschließlich Computerfachleute, Pflegekräfte und Lehrer einreisen, wurden die Neuankömmlinge als Trumpfkarte gegen Überalterung, Arbeitskräftemangel und Rentenstau gehandelt. Dass es mehr als zehn Jahre dauert, bis Asylbewerber zum Arbeitsmarktniveau der Einheimischen aufschließen und ihr Beitrag zu den Sozialsystemen aufgrund durchschnittlich schlechterer Ausbildung und Bezahlung niedriger ist, ist zweifellos kein Argument gegen ihre Aufnahme. Im Rausch des Sommers 2015 wollte es jedoch noch nicht einmal jemand hören. Kaum eine öffentliche Person brachte die Sehnsucht nach der Erlösung von den Zumutungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft deutlicher auf den Punkt als Daimler-Chef Dieter Zetsche: „Wer die Vergangenheit kennt“, so erklärte er, „darf Flüchtlinge nicht abweisen. Wer die Gegenwart sieht, kann sie nicht abweisen. Wer an die Zukunft denkt, wird sie nicht abweisen.“ Wer zurückhaltend auf den eschatologischen oder auch nur illusorischen Charakter solcher Vorstellungen verwies, geriet in diesen Tagen schnell in den Ruf, ein Ewiggestriger zu sein. „Mit jungen Syrerinnen und Irakern vorwärts in die multikulturelle Zukunft oder mit primitiven Ossis und Ewiggestrigen zurück in die rassistische Vergangenheit?“, so lautete, wie der Journalist Robin Alexander feststellte, die absurde Alternative dieser Tage.
Dabei fiel kaum jemandem auf, dass das neue, weltoffene Deutschland ähnlich selbstherrlich, anmaßend und herrenmenschelnd daherkam wie das ganz alte. Katrin Göring-Eckart von den Grünen jubelte ganz exemplarisch, dass „wir“ die „Weltmeister“ der „Hilfsbereitschaft und Menschenliebe“ seien: Deutschland setzte sich wieder „über alles“ in der Welt. Selbst einige Feindbilder hatten sich erhalten. Da sich viele osteuropäische Staaten, die auf eine lange Tradition der Bevormundungen aus Berlin zurückblicken können, ein deutsches Diktat in Sachen Flüchtlingsaufnahme, Befehl und Gehorsam verbaten, wurden sie regelmäßig als rückschrittlich, unzivilisiert und geradezu barbarisch dargestellt. Als würde nicht nur die alte Achse Berlin-Damaskus, sondern auch der Kampf gegen die vermeintlich zurückgebliebenen Slawen reaktiviert, erklärte der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link (SPD) etwa, dass er „gerne das Doppelte an Syrern“ hätte, wenn er „dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte“.
Die Folgen dieser Politik sind bekannt: In einigen europäischen Staaten kam es zu schweren politischen Verwerfungen; die Abwahl der Bürgerplattform in Polen und der Brexit gehen nicht zuletzt auf die deutsche Flüchtlingspolitik des Sommers 2015 zurück. Die Empörung über die Bevormundungen aus Berlin, den deutschen Alleingang und die ebenso plan- wie konzeptlose Einwanderungspolitik spielte in beiden Wahlkämpfen eine zentrale Rolle. In der Bundesrepublik ist hingegen das bisherige Parteiensystem zerbrochen. Das traditionelle Wechselspiel aus christlich-liberalen und links-grünen Koalitionen ist durch den Aufstieg der AfD unmöglich geworden – mit Folgen für das politische System der Bundesrepublik, die noch gar nicht absehbar sind. Auch die Sicherheitslage ist nicht besser geworden, im Gegenteil: Die Dschihadisten, die im November 2015 in Paris 130 Menschen ermordeten, waren nach der deutschen Grenzöffnung teilweise über die Balkanroute eingereist; der Berlin-Attentäter Anis Amri, der auf dem Breitscheidplatz elf Menschen ermordete und über 50 teilweise schwer verletzte, konnte sich auch deshalb unter mindestens 14 verschiedenen Identitäten registrieren lassen, weil die Behörden gnadenlos überlastet waren. Zu dem kommt – besonders katastrophal – die Aufwertung des islamistischen Regimes unter Recep Tayyip Erdogan in der Türkei. Weil Deutschland und die mittlerweile von Berlin dominierte EU bald darauf angewiesen waren, dass die Türkei Flüchtlingen aus Syrien die Weiterreise ins europäische Kernland erschwert, brachten sie sich in immer stärkere Abhängigkeit von Ankara. So wurde um des EU-Türkei-Deals willen, der in realitas ein Deutschland-Türkei-Deal war, nicht nur die Verurteilung des Völkermords an den Armeniern durch den Bundestag gecancelt. Die Türkei konnte zugleich durchsetzen, dass ihr trotz ihrer autoritären Politik die Beschleunigung die Aufnahme in die EU versprochen wurde. Gleichzeitig wurden Reiseerleichterungen für ihre Bürger in Europa zugesichert. Diese Anerkennung Erdogans trug nicht unwesentlich zum erdrutschartigen Sieg der zuvor angeschlagenen AKP bei den letzten Wahlen bei. Darüber hinaus war der EU-Türkei-Deal eine der zentralen Voraussetzungen für das harte Durchgreifen, die Einschränkung der Pressefreiheit und die Verhaftung zehntausender tatsächlicher und vermeintlicher Oppositioneller nach dem Putschversuch von 2016. Denn Erdogan wusste: Deutschland und die EU konnten es sich nicht leisten, sein Vorgehen allzu vehement zu kritisieren, weil sie von ihm abhängig waren. Ganz in diesem Sinn drohte er im Verlauf des Jahres 2016, den Deal rückgängig zu machen, die Grenzen wieder zu öffnen und die Flüchtlinge weiter nach Europa reisen zu lassen, falls die angedachten Wirtschaftssanktionen in die Tat umgesetzt würden.

Was heißt das nun?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Hier geht es weder darum, sich den Kopf des Souveräns zu zerbrechen, noch darum, das mehr als vernünftige Grundrecht auf Asyl in Frage zu stellen. Auch das Dublin-Abkommen kann in keiner Weise gerechtfertigt werden: Deutschland profitierte über Jahre hinweg davon, während Staaten wie Griechenland oder Italien in teilweise fatale Lagen versetzt wurden. Es geht stattdessen darum, dass die Bundesrepublik im Alleingang, sprich: autokratisch und ohne Rücksicht auf Verluste, die gemeinsamen Normen außer Kraft setzte. Um eines heilsgeschichtlich aufgeladenen Ziels willen war sie dazu bereit, schwere innenpolitische Verwerfungen, die Destabilisierung der Nachbarstaaten, die komplette Zerrüttung der EU und die Katastrophe in der Türkei nicht nur hinzunehmen, sondern zu befördern und dies auch noch als alternativlos darzustellen. Dieses heilsgeschichtliche Ziel war nichts anderes als die Erlösung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Denn um die konkreten Flüchtlinge ging es im Land der Prinzipien, Ideen und Visionen nie – weder im Guten noch im Schlechten. Deutschland schlug einen neuen Sonderweg ein, der trotz des geänderten Vorzeichens Ähnlichkeiten mit dem alten aufwies. Es dürfte insofern noch dauern, bis die Bundesrepublik den „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) hinter sich gebracht und sich in einen Repräsentanten des vielbeschworenen „kapitalistischen Normalbetriebs“ verwandelt hat. Wenn es überhaupt je geschehen wird – und kann.

AG Antifa, 10/2019