In Halle werden die Dummen nicht alle!

Nachdem gestern der hallische Außenminister Hans Dietrich Genscher verstarb, begann prompt der obligatorische Chor der ergriffenen Laudatoren von der Größe des Staatsmannes etc. zu schwärmen. Dem schließen wir uns selbstverständlich nicht an. Wir bleiben bei dem, was wir schon 2012 in einem Flugblatt anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 85. Geburtstag festhielten.

Was ist nötig, um zum Ehrenbürger Halles ernannt zu werden? Richtig: Es ist (1.) von Vorteil, in Halle oder Umgebung geboren worden zu sein wie Louis Jentzsch, Gustav Hertzberg und Carl Dryander. Die Saalestadt hat es sich in ihrer Provinzialität gemütlich eingerichtet und will dort auch nicht so schnell heraus. Darüber hinaus ist es (2.) von Vorteil, der Staatsräson alle anderen Dinge unterordnen zu wollen, wie der Erstweltkriegsgeneral und spätere Rechtsaußen-Reichspräsident Paul von Hindenburg, der 1933 zum Ehrenbürger Halles ernannt wurde. Und es ist (3.) von Vorteil NSDAP-Mitglied gewesen zu sein wie Adolf Hitler und Hermann Göring, denen 1933 und 1934 die hallische Ehrenbürgerwürde verliehen wurde.

Von der NSDAP zur FDP

Wer alle drei Punkte erfüllt, ist klar im Vorteil – so wie Hans Dietrich Genscher, dessen 85. Geburtstag mit einer Großveranstaltung der Bundeswehr-Bigband in der hallischen Händelhalle begangen wird: Genscher wurde in Reideburg, das inzwischen von Halle eingemeindet wurde, geboren, er ist die personifizierte Staatsräson, und er war Mitglied der NSDAP. Dieser Parteibeitritt war laut Genscher zwar eine Art Versehen. (Sicher ähnlich wie bei Hitler und Göring, die eigentlich einem Taubenzüchterverein beitreten wollten und nach einigen Jahren verwundert feststellten, dass es in ihrem Klub um ganz andere „Rassen“ ging als um Zwergkröpfer, Dragooner oder Nönnchen-Tümmler.) Er selbst sei ohne sein Wissen in die Partei aufgenommen worden, so Genscher. Wer solche Erklärungen allzu unkritisch übernimmt, übersieht allerdings eilfertig, dass Genschers Parteiaufnahme nicht, wie gern behauptet, 1945 stattfand, als solche Verfahren teilweise üblich waren, sondern schon 1944, in einer Zeit, in der Sammelanträge weitaus unüblicher waren als im darauf folgenden Jahr. Wie dem auch sei: Nach 1945 trat Genscher in der SBZ zielstrebig ausgerechnet jener Partei bei, die als die sowjetkritischste der gesamten Zone galt: der LDPD. Selbstverständlich war die Sowjetunion nie ein Hort der Freiheit und des Glücks. Im Gegenteil. Wenn eine Partei jedoch nur kurz nachdem die Sowjetunion im Verbund mit den anderen Alliierten das Dritte Reich niedergerungen hat, wenn sie nur wenige Monate nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee ein strikt sowjetkritisches Programm entwirft, dann entsteht der Verdacht, dass der nationalsozialistische Antibolschewismus hier nur in veränderter Form fortgesetzt wird. Insbesondere dann, wenn sie sich recht bald auch für ehemalige Nazis öffnet. Auch die FDP, der Genscher nach seiner Flucht aus der DDR beitrat, war in den ersten Jahren der Bundesrepublik nicht zuletzt ein Sammelbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder. Liberalismus bedeutete in der Bundesrepublik dieser Jahre vor allem eine Laisser-faire-Haltung gegenüber ehemaligen kleinen, mittleren und ganz großen Nazis.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich ist Genscher kein Nazi. Sowohl an seiner Biographie als auch an seiner Politik lässt sich allerdings exemplarisch zeigen, was Theodor W. Adorno meinte, als er vom Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie sprach.

Liberale Traditionen

Ähnlich wie viele andere deutsche Parteien hatten auch die Liberalen in der Weimarer Republik einen entscheidenden Anteil daran, den mentalen Boden für den Nationalsozialismus zu bereiten. Bereits in den Weimarer Jahren herrschte in Deutschland jene verkehrte Welt, die hierzulande noch immer existiert: Die Linken vertraten Positionen, die zum Repertoire der Rechten gehören; die Konservativen erhoben Forderungen, die weniger mit dem traditionellen Programm des Konservativismus als mit den nationalrevolutionären Vorstellungen der Nazis gemein hatten; und die Liberalen der Deutschen Volkspartei (DVP) traten nicht wie ihre angelsächsischen Glaubensgenossen für eine Zurückdrängung des Staates, für ein Mehr an Bürgerrechten und die Rechte des Einzelnen ein, sondern für das Gegenteil. Die DVP, so schrieb Fritz Bieligk, in den 1940er Jahren Mitglied der antideutschen „Fight-For-Freedom“-Gruppe, vor vielen Jahren, war zwischen 1918 und 1933 „Exponent des aggressiven Nationalismus und hielt den Geist der Rache aufrecht. Ihre Politik zielte durchweg auf die moralische, politische und ökonomische Restauration des deutschen Militarismus, der deutschen militärischen Macht und proklamierte die Einheit des deutschen Volkes von der ‚Linken› bis zur ‚Rechten› im Kampf für ‚Deutschlands Freiheit›. Für Stresemann und die Deutsche Volkspartei war die ‚Deutsche Freiheit› ein Synonym dafür, dass Deutschland sich von seinen feierlichen Zusicherungen, zur Reparation der Kriegsschäden beizutragen, auf die Wiederherstellung seiner militärischen Macht zu verzichten und die neue Regelung in Europa und die Souveränität aller europäischen Nationen zu respektieren, zurückzieht. Dieser so genannte Kampf für die ‚Freiheit Deutschlands› unter der Führung Stresemanns war daher seit 1923 ein kontinuierlicher Angriff auf den Frieden in Europa, auch wenn Stresemann ihn als ‚Politik der Verständigung› deklarierte. Stresemanns größter Erfolg war der Vertrag von Locarno. Durch diesen Vertrag wurde Deutschland wieder eine Weltmacht, und Deutschlands Staatsmänner zögerten nicht, diesen Wandel der Position Deutschlands einige der kleineren Staaten in der Welt sofort spüren zu lassen. Unter dem Deckmantel des Vertrages von Locarno konnten die Vorbereitungen der Aggressionen schneller vorangebracht werden. Heute wissen wir, dass das Tempo der heimlichen militärischen und ökonomischen Wiederaufrüstung Deutschlands in den Jahren 1924 bis 1929 nur noch unter von Papen und Hitler übertroffen wurde. […] Die Deutsche Volkspartei pflasterte den Weg zur Diktatur in Deutschland. Sie trägt die volle Verantwortung für die Zerstörung des wahren Liberalismus, der Freiheit, Gerechtigkeit und der Würde des Menschen.“(1)

Liberale Traditionspflege

Die entsprechenden Tendenzen bestanden unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach 1945 fort. Ebenso wie der Nationalsozialismus die Differenzen zwischen den verschiedenen Klassen und Schichten durch die Verschweißung zum großen Mordkollektiv zum Verschwinden gebracht hatte, verschwanden nach 1945 auch die letzten nennenswerten Unterschiede zwischen den politischen Parteien. Noch weitaus stärker als in der Weimarer Republik – und deutlich stärker als in Ländern mit einer großen liberalen Tradition – bildete sich in der Bundesrepublik das heraus, was Johannes Agnoli als plurale Variante einer Einheitspartei bezeichnete(2): Die Unterschiede zwischen den Parteien reduzieren sich auf einige Differenzen in Detail‑, Verfahrens- und Kleidungsfragen; einmal vorhandene (durchaus begrüßenswerte) Klientelpolitik – die Arbeiterparteien vertreten die Interessen der Arbeiterschaft, der Liberalismus das weltoffene Bürgertum usw. – verschwand zugunsten eines Eintretens für ein vermeintlich Großes und Ganzes: für Deutschland respektive den Staat. Nicht nur die Sozialdemokratie, von der aufgrund ihres traditionellen Staatsfetischismus› und ihrer Obrigkeitshörigkeit ohnehin nichts anderes zu erwarten war, und der Konservativismus, der stets nur konservieren kann, was einmal da war, kehrten nach 1945 ihre miesesten, opportunistischsten und autoritärsten Potentiale hervor, sondern auch der Liberalismus. Von der Vorstellung des Einzelnen, der mit genügend Fleiß und Geschick zu seines Glückes Schmied werden kann, blieb bei der liberalen Agitation gegen die Ökonomie des Etatismus nur noch das Lob des blinden Schicksals.(3) In der Regel – und mit Ausnahme einiger Wirtschaftsfragen – verwandelten sich die einstigen Freunde des Nachtwächterstaates sogar in Propagandisten der Staatsräson. Die unsichtbare Hand des Marktes wurde in der Vorstellung der deutschen Liberalen durch die sichtbare und harte Hand des Staates ersetzt. Das wurde nicht nur in Genschers Zeit als Bundesinnenminister deutlich, als der Überwachungsstaat deutlich ausgebaut wurde und die Befugnisse der Polizei, insbesondere des Bundeskriminalamtes, erweitert wurden. Die liberale Staatsvergottung – in anderen Ländern ein Paradox – fand ihren Ausdruck auch in einer der bekanntesten Initiativen Genschers vor der UNO: Auf Initiative des inzwischen zum Außenminister der sozialliberalen Koalition Ernannten nahm die UNO-Vollversammlung im Dezember 1976 eine Anti-Terrorismus-Konvention an, in der festgeschrieben wurde, dass auf die Forderungen von Geiselnehmern von staatlicher Seite auf keinen Fall einzugehen ist. Warum nicht mit ihnen verhandelt werden sollte, daran ließen Genscher und sein damaliger Vorgesetzter, Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), keinen Zweifel: Der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen. Während z.B. Israel selbst mit den widerwärtigsten Terroristen verhandelt, wenn dadurch das Leben Einzelner gerettet werden kann, opferte die Bundesregierung Menschenleben um der Staatsräson willen.(4) Ausgerechnet Genscher, ein vermeintlicher Anhänger des Liberalismus, jener politischen Strömung, die sich einmal Staatsferne, die freie Entfaltung des Einzelnen, seine Selbstbestimmung und die Absicherung seiner Rechte auf ihre Fahnen geschrieben hatte, war es, der das deutsche Vorgehen bei der Botschaftsbesetzung der RAF in Stockholm nachträglich rechtfertigte. Dort starben die Botschaftsangestellten Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaard nicht allein aufgrund der Skrupellosigkeit der RAF. Sondern sie starben auch, weil das Bundeskabinett jede Verhandlung mit den Terroristen verweigerte und Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) in schlechter alter Tradition in „Die Würde des Staates ist unantastbar“ verwandelte. Genscher war es, der mit seiner Initiative vor der UNO einen Vorgeschmack auf das Handeln der Bundesregierung während des Deutschen Herbstes gab, als die Bundesregierung ihren Kumpan Schleyer und den Lufthansapiloten Jürgen Schumann der Staatsräson opferte – und dieses Vorgehen zum Maßstab der internationalen Politik machen wollte. Am deutschen Wesen sollte wieder die Welt genesen.

Deutsch-Arabische Freundschaft

Obwohl Genschers Tätigkeit im Außenministerium aufgrund ihrer Orientierung an internationalen Organisationen gelegentlich als Bruch mit den bisherigen Prämissen der deutschen Außenpolitik gilt, brachen in ihr in kodierter Form altbekannte Politikmuster durch. In keiner deutschen Partei wurde und wird die traditionelle Verbundenheit zur islamischen Welt so intensiv gepflegt wie in der FDP: Unter dem Personal der einschlägigen Vereine wie der „Deutsch-Arabischen Gesellschaft“ oder des noch von den Nazis gegründeten „Nah- und Mittelost-Vereins“ finden sich überdurchschnittlich häufig Mitglieder der Freien Liberalen. Auch mit der traditionellen Feindschaft gegenüber den Juden wurde unter blau-gelb nicht gebrochen. Man richtete sich nun vielmehr in aktualisierter Form gegen den jüdischen Staat. So entsandte etwa Genscher 1979 seinen Adlatus Jürgen Möllemann zu Gesprächen mit dem damals noch international isolierten Terroristen Jassir Arafat in den Libanon, was in Israel mit erheblicher Verstimmung registriert wurde. Genscher, der 1972 als Innenminister den Einsatz einer israelischen Spezialeinheit zur Befreiung der Geiseln in München ablehnte, zögerte nach einer Flugzeugentführung wenige Wochen später keine Sekunde, die drei festgenommenen palästinensischen Terroristen freizulassen. Im Sommer 1984 war es dann wiederum Genscher, der als erster westlicher Politiker seit der Islamischen Revolution den Mullahs im Iran seine Aufwartung machte, was das Auswärtige Amt ebenso wenig wie das FDP-geführte Wirtschaftsministerium daran hinderte, Waffen und Giftgas im Wert vieler Millionen D‑Mark an Saddam Husseins Irak zu liefern.

Der Geist Joachim von Ribbentrops

Auch in anderer Hinsicht finden sich in Genschers Außenpolitik deutliche Kontinuitäten zum einstmaligen Vorgehen der Wilhelmstraße.(5) Als nach 1989 innerhalb der jugoslawischen Föderation Konflikte ausbrachen, knüpfte das deutsche Außenministerium an die Politik von Stresemann bis Ribbentrop an und setzte auf dem Balkan auf eine ethnisch grundierte nationale Selbstbestimmung. Gegen den Willen Amerikas, Großbritanniens, Frankreichs und der Mehrheit der EG-Länder unterstützte Genscher die Separationspläne der jugoslawischen Bundesstaaten. Während sich der amerikanische Botschafter in Jugoslawien monatelang darum bemühte, Kroatien und Slowenien von ihren Separationsplänen abzuhalten, drängte die deutsche Regierung hinter den Kulissen in die entgegen gesetzte Richtung. Sie ermutigte Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die Föderation zu verlassen. Im Frühjahr 1991 hatten etwa zwischen kroatischen und serbischen Milizen wilde Feuergefechte stattgefunden, bei denen freilich niemand verletzt wurde, weil beide Seiten nur wütend und verzweifelt in die Luft feuerten. Die Hemmungen gingen erst verloren, als Deutschland der kroatischen Seite Verständnis für ihre Forderungen signalisierte und für den Ernstfall völkerrechtliche Anerkennung, militärischen Beistand, EG-Mitgliedschaft und D‑Mark-Kredite versprach. Durch das deutsche Vorpreschen bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens wurde sowohl der Zerfall Jugoslawiens als auch der mörderische Bürgerkrieg auf dem Balkan forciert, den die anderen EG-Staaten und Amerika durch ihre Kritik der slowenischen, kroatischen und bosnischen Separationsbestrebungen zu verhindern versuchten. Vor allem aber rückten in Genschers Balkanoffensive der Jahre 1991/92, wie von der unsichtbaren Hand Joachim von Ribbentrops geführt, auch die alten Zwillingsgeschwister Deutschland und Österreich wieder gegen Serbien, den alten gemeinsamen Feind aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, zusammen. Als Bündnispartner fungierten, als wäre die Uhr um 50 Jahre zurückgedreht worden, erneut die alten Waffenbrüder, Verbündeten und Hilfsvölker aus dem Balkanfeldzug der Jahre 1941 ff.: Kroatien und Bosnien.

Genscher und Kermit

Wenn die Gäste der großen Genscher-Gala in der Händelhalle das alles weder zur Empörung noch zur Rechtfertigung treibt, dann kann vermutet werden, dass sie bei dieser Veranstaltung weder aus großen Sympathien für Hans Dietrich Genscher noch wegen besonderer Zuneigung zur FDP erschienen sind. Sondern sie dürften einfach nur an diesem Event teilnehmen, weil endlich einmal jemand in Halle gefeiert wird, der nicht nur (wie z.B. Genschers Ehrenmitbürger Peter Sodann) im Sendegebiet des MDR bekannt ist. Sie würden in ihrer großen Mehrheit vermutlich auch zu Kermit dem Frosch und Miss Piggy gehen. Damit stehen sie nicht nur für die traditionelle Provinzialität dieser Stadt, sondern sie bestätigen zugleich das alte Sprichwort: In Halle werden die Dummen nicht alle.

AG No Tears For Krauts Halle

Anmerkungen

(1) Fritz Bieligk: „German Liberals“. Die Außenpolitik der deutschen Liberalen, in: Curt Geyer, Walter Loeb u. a.: Fight For Freedom. Die Legende vom „anderen Deutschland“, Freiburg 2009, S. 116f. Dort auch näheres zur „Fight-For-Freedom“-Gruppe.

(2) Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S. 53.

(3) Vgl. allgemein: Redaktion Bahamas: Kritik und Parteilichkeit, in: Bahamas 48/2005.

(4) Vgl. hierzu jüngst: Thomas Maul: Der Staat fürs Leben oder Sterben für den Staat?, in: Bahamas 63/2012.

(5) Vgl. Wolfgang Pohrt: Der Durchbruch der deutschen Politik in die gleiche Richtung, in: Ders.: Das Jahr danach, Berlin 1992.