Anna und Arthur, geht spielen!

Flugblatt anläßlich einer linken »Antirepressionswoche« in Halle

Die radikale Linke hat weniger das Problem, dass jemand sie belauscht, ihre E‑Mails überwacht oder ihre Computerfestplatten liest, sondern dass sie keine Zuhörer findet. Wer vor diesem Hintergrund eine megalomane „Antirepressionsreihe“ wie die „Anna & Arthur“-Wochen organisiert, dem geht es weder darum, sich über Repression zu beklagen. Noch geht es ihm um – teilweise durchaus nützliche – Unterstützungsarbeit für die wenigen tatsächlichen Repressionsopfer aus den einschlägigen Kreisen. Sondern er versucht vielmehr, Repressionen herbeizureden. Die hallischen „Antirepressionswochen“ sind Ausdruck eines speziellen autonomen Aufmerksamkeitsdefizit-Komplexes.

Die radikale Linke hat ein Problem: Kein Schwein interessiert sich für sie. Ein Teil der Dinge, für die sie einmal stand, ist längst im gesellschaftlichen Mainstream angekommen. Um Parolen gegen Neonazis, korrupte Banker, die Wallstreet oder das Pentagon zu hören, muss man längst nicht mehr das Treffen eines autonomen Selbstfindungszirkels besuchen. Es genügt vielmehr, am Sonntag von 18.50 Uhr bis 22.45 Uhr die ARD einzuschalten und den großen Propagandablock aus „Lindenstraße“, „Weltspiegel“, „Tatort“ und „Günther Jauch“ zu schauen. Wer am Wochenende besseres zu tun hat, kann am Montag einfach an der Tür eines beliebigen Lehrerzimmers lauschen oder die „Frankfurter Rundschau“, die „Süddeutsche Zeitung“, den „Spiegel“ und die „Mitteldeutsche Zeitung“ aufschlagen.
Für linksradikale Forderungen hingegen, die über den traditionellen Antifaschismus, den Antiimperialismus und den Hass auf böse, böse Banker hinausgehen – das Streben nach Glück, Individualität und Genuss –, gibt es dagegen kaum noch Ansprechpartner. Auch die radikale Linke selbst hat weitgehend vergessen, dass es Schöneres geben kann als die Dienstags-Küfa (für Nicht-Hallenser: das Kind der „Vokü“, die „Küche für alle“) oder die linke Variante des Musikantenstadels, die unter der Bezeichnung „Punkkonzert“ regelmäßig in besetzten Häusern stattfindet. Selbst wenn sie sich, wie auf einem Aufkleber, der vor einigen Jahren in der Küche der „Reilstraße 78“ bewundert werden konnte, gelegentlich die Parole „Her mit dem schönen Leben“ auf ihre Fahnen schreibt, unterscheidet sich ihre Vorstellung von diesem Leben nur selten von der des Neckermann-Katalogs, des ZDF-„Traumschiffs“ oder eines gut budgetierten Pornofilms: Der Aufkleber zeigt die Kombination aus türkisfarbenem Meer, weißem Sandstrand und Palmen, die schon in hunderten Fernseh‑, Kino- und DVD-Produktionen als Kulisse herhalten musste. (Zur Relativierung sei angemerkt: Wer die Küche der „Reilstraße 78“ kennt, die nicht aufgrund des fiesen Systems, sondern aufgrund des kreativen Verhältnisses ihrer Nutzer zur Hygiene wie Dresden 1945 aussieht, der weiß, dass diese Forderung nicht ernst gemeint war.)

Linke Wunschträume
Die Bedeutungslosigkeit der radikalen Linken spiegelt sich auch in der staatlichen Repression gegen sie wider. Soll heißen: Nicht einmal der Staat und seine Repressionsorgane interessieren sich sonderlich für die Jungs (Mädchen sind eher selten) mit den roten Fahnen, den schwarzgrauen Kapuzenpullovern und den Bärten, mit denen man sich nach der glücklichen Zeit der Abstinenz seit einigen Jahren wieder das Gesicht behängt. In den 20er Jahren, in der Zeit, in der die „Rote Hilfe“ gegründet wurde und die KPD hunderttausende Mitglieder hatte, saßen unzählige Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten in den Knästen. Inzwischen lassen sich die Namen derjenigen, die sich hierzulande wegen ihrer linken Gesinnung hinter Gittern befinden, auf einem mittelgroßen Einkaufszettel unterbringen. Wenn der Staat doch einmal zuschlägt, dann ist dafür vor allem eine Kombination aus Folklore und Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verantwortlich: Immerhin müssen die Staatsschutzbeamten der Abteilung „Politische Kriminalität (links)“ rechtfertigen, dass sie 20 Jahre nach dem Untergang des Ostblocks und 15 Jahre nach der Auflösung der RAF ein Budget für einen neuen Dienstwagen, einen Flachbildschirm und den spaßigen Combat-Schießkurs brauchen.
Vor diesem Hintergrund verwundert es zunächst, dass die hallische Ortsgruppe der „Roten Hilfe“ im März so genannte „Anna & Arthur Antirepressionswochen“ organisiert: eine Mammutreihe von zehn Veranstaltungen in rund zwei Wochen, mit deren Hilfe, wie es auf dem Ankündigungsflyer heißt, „Übergriffen durch den Staat entgegengewirkt“ werden soll. Für die Organisation und Durchführung dieser Veranstaltungsreihe ist wesentlich mehr Aufwand an Zeit und Manpower nötig als für sämtliche Unterstützungsfälle der hallischen „Roten Hilfe“ in den gesamten 15 Jahren ihres Bestehens zusammen. Darüber hinaus ist es merkwürdig, dass sich im Vorbereitungskreis der „Antirepressionswochen“ weitaus mehr Personen engagieren als im gesamten Chemiedreieck zwischen Halle, Merseburg und Bitterfeld als potentielle Zielscheiben für staatliche Repressionen gegen Links in Frage kommen. Wenn sich also kaum jemand für die radikale Linke interessiert; wenn schon die selbsternannten Revolutionäre die Langeweile, die auf linken Gruppentreffen herrscht, kaum ertragen und im Sommer lieber ins Nordbad als zum Offenen Antifa-Plenum in die Reilstraße gehen; wenn sich die regionalen linken Repressionsopfer der letzten Dekade darüber hinaus an einer Hand abzählen lassen: Warum findet diese Veranstaltungsreihe dann statt? Warum der Aufwand? Die Antwort ist einfach: Hier werden Wunschträume verhandelt. Viel Repression bedeutet viel Beachtung bedeutet großen Einfluss. Da sich die Repression gegen die radikale Linke einfach nicht einstellen will – der Staat beschränkt sich in dieser Region gerade, wie jüngst in Dessau zu beobachten war, auf Migranten –, wird sie mit den „Antirepressionswochen“ kurzerhand herbeigeredet. Man kennt das von pubertierenden Jungs: Sie brüsten sich ständig damit, dass sie sich vor weiblichen Annäherungsversuchen kaum retten können, bringen damit allerdings weniger die Realität als ihre Sehnsüchte zum Ausdruck.

Zusammen basteln!
Die Organisatoren der „Antirepressionswochen“ scheinen sich jedoch nicht nur nach öffentlicher und staatlicher Beachtung zu sehnen, sondern, unmittelbar damit verbunden, auch nach Gemeinschaft. So beginnt die Veranstaltungsreihe bezeichnenderweise mit einem „Transpi-Workshop“, bei dem, wie es im Ankündigungstext heißt, „gemeinsam schicke Transpis für die nächsten Demos“ gemalt werden sollen. Gemeinsames Herumwerkeln, das wissen die Sozialpädagogik-Studenten unter den Organisatoren aus ihren Erlebnispädagogik-Seminaren, schweißt zusammen. Passend zum gemeinschaftsstiftenden Anfang endet die Vortragsreihe dann auch mit einem Kaffeekränzchen, bei dem sich die hallische Ortsgruppe der „Roten Hilfe“ vorstellen will: „Im Infoladen Glimpflich stehen ab 15.00 Uhr Kaffee, Tee und veganer [was sonst?] Kuchen bereit.“ Ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft wird jedoch vor allem durch die Traditionen zum Ausdruck gebracht, auf die sich die Organisatoren beziehen: So sind der autonome Dresscode und die autonome Micky-Maus-Sprache („Transpi“, „Soli“, „Flugi“, „Luwi“ usw.), die sich seit einiger Zeit wieder großer Beliebtheit erfreuen, vor allem Ausdruck von Gangmentalität: Man versteht und erkennt sich untereinander. Das Gleiche gilt auch für die autonome Uralt-Kampagne „Anna & Arthur halten’s Maul“, auf die sich die Organisatoren der hallischen Veranstaltungsreihe berufen. Über den Hintergrund dieser Kampagne wollen sie lieber nicht so viel verraten: Nach dem Auseinanderbrechen der Protestbewegung gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens, so heißt es lapidar im Ankündigungsflyer, „soll sich die erste ‚Anna & Arthur halten’s Maul’ Kampagne gebildet haben“.

Gegen die linke Omertà!
Tatsächlich fand im November 1987 eine autonome Demonstration am Zaun der Startbahn West statt. Aus dem Demonstrationszug heraus wurden die Polizisten, die den Aufmarsch begleiteten, mit einer scharfen Pistole beschossen. Zwei Beamte starben, mehrere wurden schwer verletzt. Als einige Demonstranten daraufhin Aussagen bei der Polizei machten, riefen Autonome aus dem Rhein-Main-Gebiet die Aussageverweigerungskampagne „Anna & Arthur halten’s Maul“ ins Leben. Zwar verurteilten auch die Initiatoren dieser Kampagne die Morde: Auch wenn man der Aussage A.C.A.B. zustimmt, heißt das nicht, dass man die „Bastards“ erschossen wissen will. Mit dem Staat sollte aber auch dann nicht zusammengearbeitet werden, wenn es sich um Ermittlungen in einem Mordfall handelt; die Mitglieder der eigenen Crew, die man etwas großspurig als „Strukturen“ bezeichnete, sollten in Mafiamanier auch dann geschützt werden, wenn es sich bei ihnen um kaltblütige Mörder handelt. Der autonome Ehrenkodex und die Gemeinschaft wurden höhergestellt als die individuelle Abscheu vor der Tat. Zu dieser Mafiamentalität passte auch der Titel der Kampagne: So wurden „Anna & Arthur“ nicht einfach gebeten, keine Aussagen bei der Polizei zu machen. Sie sollten vielmehr „das Maul halten“. Auch Personen, die nicht Linguistik studiert haben, dürften den aggressiv-bedrohlichen Unterton der Forderung „Halt’ Maul!“ erkennen, auf die der Kampagnentitel anspielt. Passenderweise wurden in autonomen Publikationen bald die Namen derjenigen veröffentlicht, die auch nach dem Start der Kampagne weiterhin Aussagen bei der Polizei machten. Die autonome Gemeinde wurde zwar dazu aufgefordert, ihnen, ihren Angehörigen und Freunden kein Haar zu krümmen. Allein diese Bitte zeigt jedoch, dass zeitweise zumindest über solche Optionen – Gewalt gegen die Zeugen, ihre Verwandten und Freunde – diskutiert wurde: Ohne solche Diskussionen wäre kein entsprechender Hinweis nötig gewesen. Aus den einschlägigen Mafiafilmen ist darüber hinaus bekannt, dass auch eine Verneinung gelegentlich als Aufforderung dienen kann: Wenn der Pate seinen Untergebenen in einem bestimmten Tonfall erklärt, dass er nicht möchte, dass dem Verräter etwas passiert, wissen sie schon, was zu tun ist.
Die Kampagne „Anna & Arthur halten’s Maul“, auf die sich die hallischen Repressionsgegner berufen, hat damit einen entscheidenden Beitrag zum Zustandekommen jener Verhältnisse geleistet, die in den letzten Jahren innerhalb der Linken beobachtet werden konnten. Die autonomen und antiimperialistischen Schläger, die gelegentlich auf tatsächliche oder vermeintliche Antideutsche losgehen, israelsolidarische Veranstaltungen angreifen (Magdeburg, Hamburg, Berlin), mal einzelne Szeneangehörige, mal ein paar Straßenzüge tyrannisieren, konnten sich lange Zeit darauf verlassen, dass ihre Opfer aufgrund des linken Ehrenkodexes schweigen werden und sich weiter drangsalieren lassen. Anna & Arthur haben insofern ganze Arbeit geleistet. Vor diesem Hintergrund wird es Zeit, dass die beiden linken Identifikationsfiguren (O‑Ton Veranstaltungsreihe: „Anna & Arthur stehen für jede_n von uns“), die auf den einschlägigen Bildern bezeichnenderweise stets als Vorschulkinder mit Eimerchen und Schippe dargestellt werden, nicht mehr aufgefordert werden, „ohne Wenn und Aber“ „das Maul“ zu halten. Sie sollten stattdessen endlich auf den Spielplatz gehen.

ag „no tears for krauts“, März 2012

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