Trau keinem unter Dreißig. Zum zwanzigsten Geburtstag der Reilstraße 78


Es mag einmal eine Zeit gegeben haben, in der die linke Empörung über Spießbürger berechtigt war. Als die Chancen auf eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft gut standen und die alte Ordnung durch klare Regeln, Rückwärtsgewandtheit und Behäbigkeit gekennzeichnet war, war es möglicherweise nicht ganz falsch, sich über deren Repräsentanten lustig zu machen. Bereits die Tatsache, dass die Nazis der Zwanziger und Dreißiger regelmäßig auch gegen „Spießbürger“ und vermeintliche „Reaktionäre“ hetzten, hätte jedoch stutzig machen können. Sie verstanden ihren Verein als jugendliche Aufbruchsbewegung gegen das Alte und Verknöcherte. „Und mögen die Spießer auch schelten / so lass sie nur toben und schrei’n / und stemmen sich gegen uns Welten / wir werden doch Sieger sein,“ heißt es im Lied der Deutschen Arbeitsfront. Mit dem „Spießer“, dem „Reaktionär“ und dem traditionellen Konservativen – auch er ein Feindbild der Nazis – sollte all das verschwinden, das es sich für eine bessere Welt gelohnt hätte zu konservieren: Berechenbarkeit, eine gewisse Selbstbezüglichkeit, die Weigerung, sich dem Zeitgeist unterzuordnen, oder die Wertschätzung des Privaten. 
Dass die Linke im Stile der Nazis nach 1945 weiter gegen Spießer agitierte, hatte mehrere Gründe. Zum einen wurden die Leichen, die die Deutschen im Keller hatten, zunächst tatsächlich unter den spießbürgerlichen Geranien, dem röhrenden Hirsch oder dem Spitzendeckchen auf der Couchgarnitur versteckt. Zum anderen hatten viele derer, die sich nach dem Krieg innerhalb der Linken engagierten, ihren Sozialismus oder Kommunismus mental oder real im Schützengraben gelernt. Soll heißen: Ihre Vorstellungen waren nationalsozialistisch geprägt. Das zeigte sich nicht nur daran, dass sich linke Gruppen, wie der Historiker Dan Diner einmal erklärte, mit ihrem Kampf gegen die USA und Israel aufführten, als wären sie „die letzten versprengten Einheiten der Aktion Werwolf“: Sie konzentrierten sich vor allem auf die Führungsmacht der westlichen Alliierten des Zweiten Weltkrieges und den Staat der Überlebenden des Holocaust. Es zeigte sich auch in der linken Agitation gegen Spekulanten, die in der Tradition der nationalsozialistischen Unterteilung in gutes „schaffendes“ und böses „raffendes“ Kapital stand, und der Begeisterung für autochthone Völker, die „um Befreiung kämpfen“. Das Individuum hatte sich diesen Kollektiven unterzuordnen. Auch ästhetisch gab es klare Kontinuitäten: So sahen und sehen viele linke Selbstinszenierungen aus, als wären sie von Leni Riefenstahl oder Albert Speer persönlich choreografiert worden: schwarze Uniformierung, martialische Pose und Flammen in der Nacht.
Hatte die Polemik gegen den Spießer aufgrund der Tatsachen, dass sich zahlreiche frühere Nazis nach 1945 hinter der Spießbürgerlichkeit versteckten und die Wirtschaftswunderzeit stets auch an Friedhofsruhe erinnerte, trotzdem noch eine gewisse Berechtigung, ist diese Zeit inzwischen lange vorbei. „Die Agitation gegen ‚Spießer‘, ‚geplante Biographien‘ und lebenslange Ehe hat in der Zeit von ‚Flexibilität‘, ‚Nonkonformismus‘, ‚Lebensabschnittsgefährten‘ und ‚gebrochenen Lebensläufen‘ (Trittin, Fischer usw.) mehr staatstragenden denn provokativen Charakter“, hieß es bereits vor mehr als fünfzehn Jahren vollkommen zu Recht in der „Bahamas“. Der Spießer ist längst zum Feindbild der CDU, SPD, FDP und der Grünen geworden. Seine Abneigung gegen Veränderungen, seine Kritik der permanenten Revolution, die die Arbeitswelt und die Kommunikation prägen, und seine geringe Mobilität stehen den Erfordernissen und Wünschen des Kapitals deutlicher entgegen als die Bewegungslinke, die sich in ihren „Hausprojekten“, Politgruppen und Plenen all die Skills aneignet, die sie später in den Werbeagenturen des postmodernen digitalen und kommunikativen Kapitalismus braucht. Der traditionelle Spießer ist, wenn es ihn denn überhaupt noch irgendwo gibt, zu einem Hemmschuh bei der Auflösung des Unterschieds zwischen Arbeits- und Privatsphäre, der Entgrenzung von Arbeitszeiten, der stetigen Umwälzung der Produktion, der regelmäßigen „Neuerfindung“ der eigenen Biografie usw. geworden, die seit einigen Jahren auf der Tagesordnung stehen.
Die linke Agitation gegen ihn ist darum inzwischen eine Mischung aus Anachronismus und Konformismus. Wohl auch deshalb findet sie sich in dem Text, den die Reilstraße 78 aus Anlass ihres zwanzigsten Geburtstags und ihrer Feierdemo zusammengeschmiert hat. Er liest sich nicht, als wäre er nicht zwanzig Jahre nach, sondern dreißig Jahre vor der Besetzung des ehemaligen Kinderheimes am hallischen Zoo geschrieben worden – in einer Zeit also, in der die linke Bastelbogenwelt noch in Ordnung war. So erweckt das Pamphlet den Anschein, als hätten seine „Autor*innen“ noch nie etwas von „verkürzter Kapitalismuskritik“ (so ungenau der Begriff auch sein mag) oder der Nähe personalisierender Welterklärungen zum Weltbild des Antisemitismus gehört: böse Kapitalisten kämpfen gegen gute Hausbesetzer-Linke-Antifaschisten. Da ist nicht nur von Spießern die Rede, die sich in Ämtern hinter Paragraphen verstecken würden – so als wäre die Orientierung an Gesetzen angesichts des Trends zu Maßnahmen, Verordnungen und Willkür bei allem Wissen um den Doppelcharakter des Rechts nicht etwas Verteidigenswertes. Da wird zugleich im Stile des Frankfurter Häuserkampfs der Siebziger, dessen Aktivisten sich bevorzugt an jüdischen „Spekulanten“ austobten, von „Investoren“ schwadroniert, die sich „im Wunsch nach Profitmaximierung“ noch dazu „hinter Briefkastenfirmen verstecken“, sprich: im Klandestinen agieren und ihren Gegnern nicht, wie die Ritter des offenen Visiers aus der Reilstraße von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten würden. Und da wird von „Faschos“ gesprochen, als befänden wir uns noch in den Neunzigern. Zumindest der klügere Teil der Antifaszene war spätestens am Ende dieses Jahrzehnts von der Rede von „Faschos“ zum Begriff des „Nazis“ übergegangen, weil er wusste, dass sich der historische Nationalsozialismus und seine Freunde aufgrund ihres Antisemitismus deutlich von anderen Varianten des Faschismus unterschieden. Kurz: Es scheint fast so, als hätte die Retraditionalisierung des Dresscodes, die Rückkehr zu Versatzstücken des Autonomenstils der Achtziger, die seit einigen Jahren in linken Kreisen zu beobachten ist, auch zu einer inhaltlichen Retraditionalisierung geführt.
Diese Rückverdummung geht mit einem gehörigen Maß an Konformismus einher. Das zeigt sich auch in der Larmoyanz, mit der parlamentarische Anfragen und Anträge der AfD zu „Angriffen“ auf „emanzipatorische Projekte“ umgelogen werden. Solche Dinge sind sicher unschön, sie gehören allerdings zum politischen Geschäft. Oder wäre es besser, wenn Martin Reichert und seine Kumpels begeistert von der Reilstraße wären? Wer das obligatorische Geklapper von AfD und Co. zu „Angriffen“ aufnordet, verhöhnt nicht nur die Opfer tatsächlicher Angriffe, die sich gegen wesentlich mehr als gegen Anfragen im Magdeburger Landtag oder im hallischen Stadtrat zur Wehr setzen müssen. Er erinnert zugleich an ein Kleinkind, das auch noch dafür belohnt werden will, dass es nicht auf seine Eltern hört, sein Kinderzimmer verwüstet und keine Lust auf den Besuch bei der Oma hat. Hier ist ein Sozialtypus am Wirken, der zum dominierenden zu werden droht und deshalb längst zum politischen und kulturellen Personal der Bundesrepublik gehört. Es handelt sich um Leute wie Robert Habeck, Annalena Baerbock, Friedrich Merz, Andrea Nahles, Christian Lindner, Susanne Hennig-Wellsow und wie sie alle heißen – um Leute also, die sich nicht für die Logik und Konsistenz der eigenen Argumentation interessieren, denen der Begriff der „Anerkennung“ alles ist, denen eine Kombination aus Selbstmitleid und Auftrumpfen zur zweiten Natur geworden ist, die keine Verantwortung für die eigenen Taten übernehmen wollen und sich beim leisesten Gegenwind als Opfer hinterhältiger „Angriffe“ bösartiger Menschen inszenieren.
Vor allem aber zeigt sich der Konformismus, wenn die Teilnehmer der Demo am Ende des Aufrufs dazu aufgefordert werden, beim „Tanzen und Gehen Abstand“ zu halten („1,5 Meter“), eine FFP2-Maske zu tragen, sich zum Essen, Trinken und Rauchen „ein Stück weit aus der Menge“ zu entfernen und die „kostenlosen Testangebote in der Stadt“ zu nutzen. Das klingt nach großem Spaß. Keine Frage: Ein Teil dieser Aufforderungen geht sicher auf die hallische Versammlungsbehörde zurück. Allerdings wird niemand dazu gezwungen, die städtischen Auflagen zum integralen Bestandteil seines Demoaufrufes zu machen. (Üblicherweise werden sie am Beginn einer Versammlung verlesen.) Vor allem wird niemand dazu gezwungen, die staatlichen Auflagen überzuerfüllen. Eine FFP2-Maske wurde beispielsweise schon zu dem Zeitpunkt, zu dem der Aufruf veröffentlicht wurde, von keiner Behörde mehr verlangt. Hier ist nicht nur ein enormer Paternalismus gegenüber den Teilnehmern am Werk, die durch Fernsehen, Radio und Presse ohnehin ziemlich genau wissen, worauf zu achten ist, sondern ein immenses Maß an vorauseilendem Gehorsam. Oder in anderen Worten: eine konformistische Rebellion. Es bleibt darum festzuhalten: Wenn das die „emanzipatorischen Projekte“ und „direkten Aktionen“ sind, die im Aufruf angedroht werden, dann hat die Reilstraße 78 in Zukunft nicht viel zu befürchten. Die AfD, die „Spießer in den Amtsstuben“, Polizei und Co. dürften ihre Paragraphen- und Anfragenangriffe nämlich bald einstellen: nicht aus Angst oder Einsicht, sondern aufgrund der Langeweile und der kompletten Harmlosigkeit, für die die Aktivitäten der Reilstraße stehen.

Ihre
AG No Tears for Krauts
06/2021