Shutdown des Denkens

Der Aufruf der heutigen Kundgebung und der Realitätsverlust der Linken

Es ist nicht zu übersehen: Die Pandemie, die Sorge um die eigene Gesundheit und die Gesundheit von Freunden, Verwandten, Bekannten, der Lockdown und seine stetige Verlängerung sowie der kaum aufzulösende Widerspruch zwischen dem notwendigen Schutz von Leben und dem Schutz der elementarsten Freiheitsrechte, die seit einem Jahr in einer vorher lange kaum vorstellbaren Weise eingeschränkt werden, lassen die Menschen nicht nur verzweifeln. Sie machen sie auch dumm. Das zeigt nicht zuletzt die inzwischen wieder aufgehobene Ausgangssperre in Halle, die nicht nur an Dreistigkeit, sondern auch an Sinnlosigkeit kaum zu überbieten war. Selbst die Mitglieder des hallischen Krisenstabs dürften gewusst haben, dass sich die meisten der in Halle Erkrankten nicht zwischen 21 und 5 Uhr bei Spaziergängen durch die nächtliche Stadt, sondern zu anderen Zeiten und an anderen Orten mit dem Coronavirus infiziert haben. Die Ausgangssperre war zum einen (wie viele andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie) Ausdruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit: Weil die anderen Versuche, die Pandemie einzugrenzen, aufgrund des hohen Ansteckungsrisikos und der regelmäßigen Mutationen des Virus’ nur bedingt Wirkung zeigten und die Impfkampagne nur schleppend vorankommt, tendiert der Notstandsapparat zu Verzweiflungstaten.
Zum anderen zeigten sich in der Ausgangssperre, direkt damit verbunden, jene Allmachtsgelüste, zu denen der Staat insbesondere in Krisensituationen neigt. Die Exekutive, die Verwaltung und ihre Planspiele tendieren dazu, sich zu verselbstständigen. Zugleich verstärken und beschleunigen sich im Zuge der Pandemie jene Entwicklungen, die bereits vorher auf der Tagesordnung standen – darunter die Auflösung von Öffentlichkeit, das Einkassieren der Differenz zwischen Arbeit und Privatleben (Stichwort: Homeoffice), die Vereinsamung und die Digitalisierung jeglicher Lebensregungen: Herbert Marcuses Rede vom „eindimensionalen Menschen“ erhält durch die Verlegung des Schulbetriebs, der universitären Lehre, der Büroarbeit und der sozialen Kontakte ins Digitale eine neue Bedeutung. Zu fragen wäre nur, ob mit der enormen Beschleunigung all dieser Entwicklungen auch qualitative Veränderungen verbunden sind. Es spricht zumindest einiges dafür: Nicht erst seit Marx ist bekannt, dass Quantität regelmäßig in Qualität umschlägt.
Aber auch der Aufruf zur heutigen Kundgebung zeigt, dass die Menschen im Zuge der Pandemie zumindest nicht klüger werden. Die Linke war seit dem Beginn des ersten Lockdowns öffentlich fast verschwunden. War sie ausnahmsweise doch einmal wahrnehmbar, dann trat sie noch staatstragender auf als der Staat selbst. So wurden die Masken- und Hygienevorschriften in linken Hausprojekten nach einer Phase der Verunsicherung auch in Halle teilweise vehementer umgesetzt als in manchen Krankenhäusern. Die linken Pamphlete gegen die (ohne Zweifel unangenehmen) Querdenker unterschieden sich argumentativ in Nichts von den Äußerungen der Bundeskanzlerin, der überregionalen Tagespresse, des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder der Heute Show. Die Linke versuchte ihre Mitstreiter in Sachen aktiver Staatsbürgerkunde nur in der Frage der Militanz zu überbieten. Während sich die Polizei und die Gerichte bei der Einschränkung des Demonstrationsrechts und bei der Knüppel-aus-dem-Sack-Politik, die Sozialdemokraten ebenso forderten wie CDU-Politiker, zurückhielten, übernahm die Linke diesen Job gern. Sie trat auch hier, wie wir schon vor etlichen Jahren formuliert haben, als „militanter Arm der Zivilgesellschaft“ auf – als „Zivilgesellschaft with Attitude“. Auch hier setzten sich also Entwicklungen fort, die lange vor der COVID-19-Pandemie begonnen haben.
Den Höhepunkt dieses sich kritisch gebenden Konformismus bildete zweifellos die Initiative Zero COVID. Unter der Parole des „solidarischen europäischen Shutdowns“ wenden sich dort mehr als hunderttausend (Stand 9. April: 109.905) Linke mit der Forderung an den Staat, ihre Rechte (und die Rechte aller anderen Europäer) doch bitte noch weiter einzuschränken. Ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit, dass deutsche Linke den Bewohnern Frankreichs, Polens, Griechenlands usw. vorschreiben wollen, wie sie sich in Zeiten der Pandemie verhalten sollen, wäre die Umsetzung der Forderungen von Zero COVID mit einer noch weiteren Einschränkung der Bewegungsfreiheit verbunden. Das Gleiche gilt für andere Rechte: Denn was wäre mit denen, die den Empfehlungen des Aufrufs nicht „solidarisch“ folgen – sei es, weil sie die Maßnahmen für überzogen halten, sei es, weil sie zu den Corona-Leugnern gehören, oder sei es, weil sie aufgrund der Dauer der Einschränkungen des öffentlichen Lebens müde geworden sind? Der Aufruf von Zero COVID vermeidet es zwar, Antworten auf diese Frage zu geben; der Sozialwissenschaftler Alex Demirović hat jedoch vollkommen richtig nachgehakt: „Sollen die Polizei und die Security-Dienste verstärkt werden? Soll es Internierungen in Quarantäne-Lagern geben?“ In letzter Konsequenz laufen die Forderungen der Initiative auf den weiteren Ausbau der Bürokratie und eines Kontrollregimes hinaus. „Ein harter Lockdown kann nur polizeilich durchgesetzt werden“, so Demirović. Das chinesische Modell hat ausgesprochen und unausgesprochen auch unter antiautoritären Linken eine große Anhängerschaft.
Mit all dem wollen die Organisatoren der heutigen Kundgebung möglicherweise nichts zu tun haben. Ihre Zauberformel heißt nicht „Zero COVID“, sondern „Wirtschaftsshutdown“. Sie weisen völlig zu Recht darauf hin, dass es mehr als fragwürdig ist, dass Kassiererinnen, die Mitarbeiter von Amazon, Handwerker und andere jeden Tag zur Arbeit gehen müssen, wo sie in Kontakt mit vielen anderen Menschen kommen, sich aber zu Feierabend noch nicht einmal zu dritt auf einer Bank ausruhen dürfen. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese Maßnahmen tatsächlich im Sinne „der Wirtschaft“ sind. Ist es im Zeichen der Pandemie tatsächlich so, dass der Ökonomie das Primat zukommt, wie es der Aufruf nahelegt? Hat, wenn man diese schematische Unterteilung vornehmen will, derzeit nicht eher „die Politik“ die Führungsrolle übernommen? Und überhaupt: Haben wir etwas verpasst, oder geht derzeit nicht gerade ein nicht unerheblicher Teil „der Wirtschaft“ – von der Gastronomie über die Veranstaltungsbranche bis hin zum Einzelhandel – vor die Hunde? Auch wenn sich die Organisatoren der Kundgebung die hiesige Gesellschaft in sozialromantischer Tradition nach dem Muster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorzustellen scheinen, ist die Bundesrepublik schon längst kein Land der Fabriken, Bergwerke und Eisenhütten mehr. Der größte Teil der Wirtschaftsleistung kommt aus dem Dienstleistungsbereich, wo gegenwärtig nicht nur ein Marktreinigungs‑, sondern ein enormer Erosionsprozess zu beobachten ist. Der Anteil des Dienstleistungssektors an der Gesamtbeschäftigung liegt bei ungefähr drei Vierteln.
Vor diesem Hintergrund wäre die Frage zu stellen, was die Forderung nach einem „Wirtschaftslockdown“ überhaupt bedeuten soll, wenn der größte Teil „der Wirtschaft“ im Dienstleistungsbereich angesiedelt ist – und vor allem, wenn die Dienstleistungsbereiche, in denen die Ansteckungsgefahren am größten sind, zu einem nicht unerheblichen Teil um die Versorgung und die weiteren Grundbedürfnisse, kurz: den existenziellen Bereich, kreisen. Sollen neben dem schon brachliegenden Gaststätten- und dem Veranstaltungsgewerbe, dem Einzelhandel und den großen Kaufhäusern auch die Supermärkte dichtgemacht, der Transport weiter heruntergefahren, die pharmazeutische und medizinische Versorgung eingestellt werden? Oder, um doch über den hierzulande nur noch schwach ausgeprägten zweiten Sektor zu sprechen: Sollen die Bäckereien, Schlachtereien, die landwirtschaftlichen Betriebe schließen, die zur Versorgung notwendig sind?* Und sollen sich diejenigen, die dort arbeiten, nun ebenfalls, wie ihre Kollegen, die ins Homeoffice wechseln mussten, in Dauerpräsenz in den eigenen vier Wänden aufhalten und sich dort mit ihren Mitbewohnern, Kindern, Ehepartnern, Eltern zerfleischen? Die sozialen Dienste sind schon ohne „Wirtschaftsshutdown“ überlastet.
All diese Fragen dürften zeigen, dass die Forderung nach einem „wirtschaftlichen Shutdown“ nicht dem Zweck dient, sich Klarheit über die vertrackte Situation zu verschaffen, die einen tatsächlich zur Verzweiflung treiben kann. Im Gegenteil: Sie scheint die Möglichkeit zu bieten, die COVID-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung nach Monaten des Schweigens und der Verunsicherung wieder in ein gewohntes Schema einzupressen: Der Kapitalismus ist schuld – it’s the economy, stupid! Die ebenso absurde wie kontrafaktische Behauptung, dass die Politik „für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Wirtschaft“ in Zeiten der Pandemie „wortwörtlich über Leichen“ gehe, hilft nicht nur, das gewohnte Weltbild aufrechtzuerhalten, sondern sie erspart zugleich das eigene Denken. Die Forderung nach „Wirtschaftsshutdown“ ist kaum mehr als der hilflose Versuch, die letzten Reste der eigenen und oft nur halluzinierten Handlungsfähigkeit, die mit dem Beginn der Pandemie verlorengegangen sind, wiederzuerlangen. Der Preis dafür ist das weitere Voranschreiten des eigenen Realitätsverlusts. In diesem Sinn: Denken statt Parolen!

 

Ihre
AG No Tears For Krauts, Halle

04/2021

 

* Oder noch einmal anders: 75 Prozent der Deutschen arbeiten im Dienstleistungssektor, der größte Teil von denen, die in diesem Sektor arbeiten und nicht ins Home-Office umgezogen sind, arbeitet im existenziellen Bereich (Versorgung, Pflege usw.). In diesen Berufsgruppen sind die Ansteckungszahlen am größten. Nun könnte man entweder die Wirtschaftszweige dicht machen, die nicht zum existenziellen Bereich gehören. Dagegen spricht nichts, aber es hätte keinen so großen Effekt wie gern suggeriert wird. Oder man schließt den existenziellen Bereich – mit den zu erwartenden Folgen. Sinnvoller als der „Wirtschaftsshutdown“ dürften in diesem Bereich darum die Erhöhung von Sicherheitsstandards, Ausdünnungen usw. sein. Die Forderung nach dem „Wirtschaftsshutdown“ ist eine Kombination aus Verzweiflung über die seit einem Jahr andauernde Situation und linkem Traditionalismus: Wenn endlich mal »die Wirtschaft« angefasst würde, wird schon alles wieder gut.