Gegen den linken Konsens: Dokumentation der Beiträge zur Veranstaltung am 21. Januar 2011 in Leipzig

Gewaltphantasien gegen Affektiertheit (Redaktion Bahamas)

Spalten statt Versöhnen (AG No Tears For Krauts – Halle)

Der Stachel der Kritik (Martin Dornis)

Über die Voraussetzungen der Israelsolidarität (Sören Pünjer)

Wir Terroristen des Wortes (Justus Wertmüller)

Gewaltphantasien gegen Affektiertheit

Zur Veranstaltung Gegen den linken Konsens

Eigentlich schön, wenn eine Veranstaltung mit Bahamas-Redakteuren auf dem Podium nicht deshalb eines Sicherheitskonzeptes bedarf, weil die Referenten vor Gewalt- oder Wutausbrüchen geschützt werden müssen, die man als spontanen Ausdruck selbstbestimmter Freiräume zu verharmlosen gelernt hat, sondern weil das Publikum vor den auch gesundheitsschädigenden Folgen eines restlos überfüllten Saales bewahrt werden muss. So war es jedenfalls in Leipzig am 21. Januar 2011 in der Alten Schmiede, als die AG No tears for krauts aus Halle zusammen mit der Redaktion Bahamas gegen selbstbestimmte linke Freiräume in der Stadt zur Veranstaltung Gegen den linken Konsens geladen hatte. Einer der Security-Leute, die die Fakten genau kennen, berichtet: „Der Veranstaltungssaal hatte 120 Sitzplätze, die lange vor Veranstaltungsbeginn belegt waren. Es wurde dann nur noch ein Euro Eintritt genommen und dank Strichliste am Eingang war bekannt, dass sich schon über 200 Leute im Raum befanden. Bei ca. 250 mussten wir dann leider einen Einlassstop vornehmen, was mir ziemlich leid tat, weil vor der Tür noch mindestens 50 Leute warteten, die teilweise aus Dresden angereist waren, aber es war wirklich nicht mehr zumutbar. Auch hier nochmal also ein Sorry an alle, die nicht mehr reinkamen, aber mit einem derartigen Ansturm an einem Freitagabend (hat Leipzig sonst nichts zu bieten?) hatten wir schlicht nicht gerechnet“ https://web.archive.org/web/20170921114852/http://adf-berlin.net/).

Dass die am besten besuchte politische Veranstaltung in Leipzig eine gegen Leipzigs Linke war, hat zu so tiefer Nachdenklichkeit geführt, dass ganz Leipzig sich bis heute darüber ausschweigt – von einem Szenebeauftragten namens „Aftershow“ abgesehen. Der wusste über die Referenten Wertmüller und Pünjer und deren Gefolgschaft immerhin zu berichten: „Belohnt wurden beide von einem ebenso jungen wie affektierten Publikum“ (aftershow​.blogsport​.de). Und das, obwohl Pünjer als eine Art Nazi und Wertmüller als Gefahr für die persönliche Integrität seines offensichtlich über diese Veranstaltung hinaus gehendes Publikum zu gelten haben: „[Es wundert] kaum, wenn Sören Pünjer in seinem Beitrag betont, die ‚Jerusalemer Erklärung‘ so unterschreiben zu können, sei sie doch immer noch besser als linke Positionen zum Thema. Auch Wertmüller machte seinem Ruf alle Ehre und legte den von ihm Beleidigten [!] nahe, doch endlich mal deutsch zu lernen“ (ebd.). „Aftershow“ plädiert für den in seinen Augen zwar genauso bekloppten aber immerhin aus Leipzig stammenden Referenten Martin Dornis noch auf mildernde Umstände, gegen die aus der großen Fremde angereisten Referenten allerdings blieben ihm nur Gewaltphantasien, die er am 21. Januar 2011 nicht ausleben konnte, weil junges, affektiertes Publikum ihn rausgeschmissen hätte, bevor er seinen Laserpointer aufs Podium hätte richten können: „Einzig Martin Dornis […] fiel etwas aus der Reihe. Nicht in inhaltlichen Fragen – er stellte dar, warum Queer Theory im Faschismus enden müsse –, aber ihm konnte man wenigstens noch zuhören, ohne gleich Gewaltphantasien zu bekommen“ (ebd.).

Im online-Forum adf findet sich eine Replik auf „Aftershow“: „Weil die gesamte Linke annähernd so humorfrei ist wie dieser Blogger (BaHamas – buhaaaa) wird auch jeder, der noch halbwegs bei Trost ist, sich irgendwann von ihr abwenden“. Diese Hoffnung teilt die Redaktion.

Wir dokumentieren im Folgenden die vier Redebeiträge, die am 21. in Leipzig gehalten wurden.

Redaktion Bahamas

 

 

Spalten statt Versöhnen

Eröffnungsrede

 

Ohne Zweifel. Wer in Delitzsch, Grimma, Zwickau oder noch schlimmeren Ansiedlungen das Licht der Welt erblickt, für den erscheint ein Umzug nach Leipzig wie das Tor zum Paradies. Und das insbesondere dann, wenn die zukünftige Meldeadresse im Radius von zwei Kilometern um das Leipziger Connewitzer Kreuz liegt, wo das Leben lustig, die Wände bunt und die sogenannte Szene lebendig ist. Nicht wenigen zugezogenen Linken dürfte der rechtzeitige Ortswechsel die körperliche Unversehrtheit gerettet haben. Der Leipziger „Süden“, so die gängige Bezeichnung für den sächsischen Garten Eden, ist hip, vor Nazis und anderen ostdeutschen Rohlingen sicher; die Drogen sind billig, die Menschen schön.

Der tiefen Dankbarkeit über diesen Umstand dürfte es zuzurechnen sein, dass sich das linke Leipzig mit seiner Stadt innig verbunden fühlt. Der Stolz auf Connewitz und seine Sitten und Gebräuche ist unübersehbar, er kriecht aus allen Ritzen, er liegt wie eine Glocke über dem Stadtteil – gar nicht unähnlich dem Gestank vergorener Reste über der Bier-Brauerei im Leipziger Stadtteil Reudnitz. Dieser Stolz dürfte auch einer der Gründe dafür gewesen sein, warum im Herbst des vergangenen Jahres eine Veranstaltung im Conne Island verboten wurde und selbst jene, die das Verbot verurteilten, auf Kritiker, deren Personalausweis sie als nicht wohnhaft in Leipzig ausweisen, allergisch reagierten.

Das Bündnis gegen Antisemitismus Leipzig ersuchte damals das Plenum des Conne Island in einer Sache, die eher einer Formalität gleichkommt: Eine Diskussionsveranstaltung sollte stattfinden, wie schon dutzende Male zuvor, diesmal zum Thema „Integration“; der Referent: Justus Wertmüller. Doch so einfach war die Sache bekanntermaßen nicht. Nachdem Meinungen ausgetauscht waren und die Vorwürfe „Rassismus!“, „Sexismus!“ und „Diskussionsstil!“ maßgeblich vom Antifaschistischen Frauenblock Leipzig und Umfeld zum x‑ten Mal wiedergekäut wurden, erteilte das Plenum ein Verbot, das später niemand mehr so nennen wollte. Das Conne Island wies den Verbotsvorwurf weit von sich und bezeichnete den Vorgang nüchtern als Absage – ganz so als handele es sich um die Folge eines Wasserrohrbruchs. Andere Inselbewohner erfanden die bemerkenswerte Sprachregelung: „Wir machen DAS eben nicht.“ Auch das Bündnis gegen Antisemitismus begab sich in die Niederungen des Diskurses, bescheinigte Wertmüller ein Pöbler zu sein und signalisierte so Gesprächsbereitschaft mit der linken Zensurbehörde. Der Conne-Island-Newsflyer Ceh Ieh bestrafte das Verbot zwar mit einem Autorenstreik und belieferte den Newsflyer in der Januarausgabe nicht wie üblich mit den Abhandlungen über Rassismus, Szenetratsch und aufgepeppten Hausarbeiten. Aber auch der Newsflyer ließ es auf einen offenen Bruch nicht ankommen.

Vielmehr reihte sich, angesichts einiger scharfer Kritiken aus Berlin und Halle auch der Ceh Ieh in die Gemeinschaft der Beleidigten, der Gekränkten und sich ungerecht behandelt Fühlenden ein. Als Reaktion auf eine in der hallischen Zeitung Bonjour Tristesse abgedruckten Anzeige, die sich über die Leipziger Verhältnisse belustigte und im Zusammenhang mit der Abbildung des Konterfeis des MDR-Entertainers Achim Menzel konstatierte, dass es im Ceh Ieh nun endlich nur noch um Musik ginge, zeigte sich die Redaktion des inoffiziellen Connewitzer Regierungsblattes weitgehend humorresistent. Neben Auslassungen über „Mamis“, die ihre „Kinder“, also die Redakteure der Bonjour Tristesse, „zeitig ins Bett schicken“ würden, war der Ceh Ieh sehr urban creative und nannte die Redakteure „Provinzler“. Diese wirklich messerscharfe Analyse – die öffentliche Selbstbetiteltung der Bonjour Tristesse lautet „Antworten aus der Provinz“ – verrät mehr über den Verfasser und sein Umfeld als über die vermeintlich Beleidigten. Denn angesichts der puren Unbewohnbarkeit weiter Teile Leipzigs; angesichts der gerade mal doppelten Einwohnerzahl gegenüber Halle; angesichts von Identifikationsfiguren wie den unsäglichen Die Prinzen-Sängern Krumbiegel und Künzel und dem Sitzblockierer Ex-Obergbürgermeister Tiefensee, die es in Sachen Provinzialität locker mit den hallischen Lokalgrößen Peter Sodann, Dariusz Wosz und Kai Pflaume aufnehmen könnten, ist der Verweis auf „Provinzialität“ seiner Kritiker geradezu grotesk.

In dem Vorwurf der Provinzialität verdichtet sich vielmehr das Verhältnis der Leipziger Linken zur Connewitzer Scholle selbst. Er zeugt von einer eklatanten Schwäche des realistischen Einschätzens ihrer eigenen Umwelt. Angesichts der Zustände, die sich in ihrer Ausprägung kaum von Vorgängen in Dessau, Potsdam oder eben Halle unterscheiden; oder schlimmer noch: Angesichts einer Stadt, die sich als Vorbild für die gesamte Republik anpreist und unter der Schirmherrschaft einer obskuren „Leipziger Freiheit“ steht – so der stadtoffizielle Werbeslogan –, einer Stadt, die sich immer wieder als „Wissenschafts-“, „Bach-“ oder gar „Heldenstadt“ in Szene setzt, angesichts dieser Stadt wäre das Vorgehen einer ideologiekritischen Linken „in und gegen Leipzig“ dringend notwendig.

So wie Leipzig sich aufgrund seiner Geschichte für überaus progressiv hält, so hält sich auch seine linke Szene aufgrund ihrer angeblichen Israelsolidarität für geradezu einzigartig und schon deshalb für besonders schützenswert. Man fühlt sich urban, dissident, der Kritik des Antisemitismus mächtig und damit als Teil einer Gemeinschaft der Guten; der „Süden“ als eine Art Prenzlauer Berg in dreckig, nur ohne Schwaben und andere Fremden; ein Reservat des basisdemokratischen Zusammenlebens, dessen höchster Ausdruck die hochgelobte Konsensfindung ist.

Leipzigs Linke sind damit Teil einer städtischen Selbstinszenierung und gehen dieser selbst auf den Leim. Während den Marketingexperten mit ihren unendlichen Geschichten über die friedliche Revolution, die Hauptstadt der Bürgerrechtler, über Demokratie, Pfarrer Führer und Höchstleistungen in Kunst und Kultur auf Grund ihres Lohnverhältnisses noch ein instrumentelles Verhältnis unterstellt werden kann, ist die Liebe der Leipziger Linken zum „Süden“, zum „Laden“ (für Conne Island) oder zur „Karli“ (Sprech für die Karl-Liebknecht-Straße, die als Hauptgeschäftstraße Leipzigs Zentrum mit Connewitz verbindet) authentisch und offenbar durch nichts zu erschüttern. Die wenigen, die sich der basisdemokratischen Wohlfühl-Gemeinschaft verweigern, werden geächtet und sogar, wie auf einem Conne-Island-Plenum geschehen, mit Prügel bedroht. Wer nicht mitspielt ist raus.

Angesichts dieser Leipziger Linken, für deren übergroße Mehrheit die Kuschelgemeinschaft alles, die Wahrheit hingegen nichts bedeutet, ist das heutige Motto unserer Veranstaltung „In und gegen Leipzig“ unbedingt auf die Linke selbst anzuwenden. Zwietracht zu säen – nicht mehr und nicht weniger – ist das Ziel. Wir wünschen viel Vergnügen.

AG No tears for krauts –Halle

 

 

Der Stachel der Kritik

Über einige interessierte Missverständnisse

 

Die Missverständnisse gegenüber Begriff und Sache der Kritik sind allesamt interessiert. Sie zielen darauf ab, materialistische Ideologiekritik entweder aufzuweichen und zu verwässern, ihr den kritischen Stachel zu rauben. Im schlimmeren Falle stehen sie dem Ansinnen der Kritik, der Verteidigung des Individuums angesichts seiner gesellschaftlichen Liquidation offen entgegen. Mein Vortrag behandelt den Begriff der Kritik und setzt ihn Äußerungen der Leipziger radikalen Linken entgegen. Denn dieser Begriff ist vor Ort auf den Hund gekommen. Allerorten wird reichlich differenziert, es ginge um „Harmonie“, ums „Wohlfühlen“, um „Respekt vor der anderen Position“. Die Kritik ist in Verruf geraten. Sie erschöpfe sich im Postulieren harter Männlichkeit, bestreite die Degradierung von Frauen, sie sei weiß, männlich und westlich und Probleme wie Rassismus und Sexismus würde sie nichts angehen. Mein Vortrag insistiert darauf, derartige „interessierte Missverständnisse“ aufzuspießen und sie unerbittlicher Kritik preiszugeben.

Nun fühlt sich fast jeder Mensch gern aufgehoben und geborgen. Aber angewandt als verordnetes Prinzip zeitigen derartige Wünsche fatale Folgen. Denn die Kritik verteidigt Individualität in Zuständen, die keine solche mehr zulassen. Kritik attackiert Harmonie und Wohlfühlen als falsch und ist daher bestrebt sie zu denunzieren. Sie drängt anderen etwas auf, was diese scheuen wie der Teufel das Weihwasser, in der Hoffnung, doch jemanden zu finden, der sich dieser Zumutung auszusetzen gedenkt. Deshalb darf, ja kann sie keine Rücksicht nehmen. Ihr Bestreben ist es durchaus, das Gegenüber zu treffen, in seinem Wesen zu erschüttern, in Marxscher Diktion ja sogar: zu vernichten, was bedeutet: es dazu zu bringen, nicht mehr es selbst zu sein, sondern ein anderes zu werden. Daher ist Kritik ihres Inhalts und ihrer Form nach rücksichtslos.

Wo Harmonie und Wohlfühlen an den Beginn jedweder Debatte gestellt werden, ist so etwas unmöglich. Werden Harmonie und Wohlfühlen, die per se etwas privates, spontanes und individuelles sind, verordnet und zu politischen, also öffentlichen Prinzipien erhoben, muss Kritik, die das Leid spürbar machen könnte und das Elend, das heute eines des Individuums ist, zu publizieren gedenkt, zum Schweigen verdonnert werden.

Das Papier Harte Männer, hartes Geschäft aus dem Umfeld der Leipziger Gruppe in Gründung, das via Jungle World (Ausgabe 04/09) Karriere machte, ist in mancherlei Hinsicht ein Dokument der hiesigen Aversion gegen Begriff und Sache der Kritik unter vermeintlich antideutschen Vorzeichen. Viele der „interessierten Missverständnisse“ sind hier bereits versammelt. So wird behauptet, Kritik wäre „dezisionistisch“, würde also Freund-Feind-Bestimmungen als letzten Grund des politischen Handelns proklamieren, rhetorisch würde eine „Entscheidungssituation“ postuliert. Der Kritiker käme daher als „harter Mann“, der dem Elend der Welt furchtlos ins Gesicht blicke. Ironisch wird davon gesprochen, dass er „Widersprüche aushalten“ können müsse und in seiner „Einsamkeit“ nähme er „das harte Geschäft der Kritik“ auf sich.

Es gäbe keinen „Königsweg der Kritik“, so die Autoren. Doch damit, so ist entgegenzuhalten, ist die Kritik ihrer Substanz nach erledigt. Gleichwohl wollen die Autoren zwischen beiden Seiten des angeblichen Widerspruchs zwischen „Ideologiekritik und Realpolitik“ vermitteln und sich daran machen, „das Verhältnis zwischen theoretischer Kritik und praktischer Veränderung der Gesellschaft“ zu lösen. Das Zentrum der Kritik, das Aushalten von Widersprüchen, weil sie sich nicht auflösen lassen, wird im betreffenden Papier ironisch belächelt und als Muskelprotzerei und Schwanzlängenvergleich verächtlich gemacht – während man für sich selbst in Anspruch nimmt, ganz „souverän“ dazustehen.

Aber was gibt es eigentlich aufzulösen am Widerspruch zwischen „Ideologiekritik und Realpolitik“, ist es doch das Signum kritischer Theorie nach Auschwitz, dass sie zwischen Theorie und Praxis einen tiefen Graben konstatiert, der nicht einfach übersprungen werden kann, es sich gerade um das Unterpfand der Humanität handelt, dass sich Kritik und praktisches Eingreifen entgegenstehen. Kritik ist gezwungen sich im Elfenbeinturm zu verschanzen – mit Schießscharten, wohlbemerkt.

Was Linke übrigens als Politik verkaufen, hat oft mit solcher nichts zu tun, sondern wirklich sehr viel mit Realpolitik. Sinnvoll würde es sein, einmal den Unterschied zwischen Politik und Realpolitik durchzubuchstabieren. Israel betreibt Politik, wenn es das NGO-Pack daran hindert, weiterhin mit ihrem Menschenrechtssermon die Hamas beim Raketen basteln zu unterstützen. Israel als militanten Arm der Befreiung von Herrschaft und Ausbeutung zu fassen, ist beileibe keine „sophistische Konstruktion“ (ebd.). Israels Agieren ist einer der wenigen Fälle, in denen Politik im bürgerlich-emphatischen Sinne noch existiert. Genau in dem Sinne ist Israel wirklich der „Vorschein des Kommunismus“, insofern die verwirklichte befreite Gesellschaft auf bürgerlicher Versachlichung gründet und diese ein Vorschein des Kommunismus ist. Gerade Israel aber hält – und zwar mit seiner bloßen Existenz als auch militärisch an diesen Errungenschaften fest, weshalb es, als eines der letzten Bollwerke der Menschheit, von den Antisemiten aller Länder gehasst oder zu allem Überfluss wegen dieses Hasses zur Mäßigung aufgerufen wird.

 

Der männliche Westen

Was steht hinter der häufig geäußerten Unterstellung gegen Kritik, sie sei weiß, westlich und männlich? Die Unterstellung zielt mitten ins Herz der Kritik: ihr Wesen sei all das, was mit den Unarten in Verbindung gebracht wird, die die weißen Kolonisatoren über die Welt gebracht hätten.

In diesem Zusammenhang darf der Verweis auf den „Eurozentrismus“ der Kritik nicht fehlen. Aber die Kritik knüpft tatsächlich an die philosophischen Traditionen genau des von links her verteufelten Okzidents an. Nur hier konnte der Wert zugleich gesellschaftsmächtig und kritisiert werden. Kritik hat westliche Zivilisation zur unabdingbaren Voraussetzung. Allerdings hat sich dieses Prinzip längst universalisiert und wer Zivilisation als westlich bezeichnet, kann sich offenbar zivilisierte Araber nicht vorstellen – sofern er sie nicht als „verwestlicht“ verteufeln würde. Die westlichen Werte sind weder „westlich“, noch sind sie einfach „Werte“. Sie auch noch als ausschließlich westliche Kultur zu bestimmen läuft auf die Konkretisierung des abstrakten Vermittlungsprinzips hinaus – mit altbekannten Folgen: Wer gegen den Westen wettert, meint nichts als die Verschwörung der Weisen von Zion, die die autochthonen Völker, Kulturen und Subkulturen mit Geld, Luxus, U‑Bahnschächten und Kritik unterminieren und zerstören würden.

Um keinen Deut besser ist der Verweis auf den angeblich männlichen Charakter der Kritik. Der Verweis auf den zudringlichen Charakter der Kritik soll die Angst vor der Zersetzung der Gemeinschaft, vorm Eindringen verderblicher Einflüsse ins wohlige Gemeinwesen verbergen. Das Bild des Kritikers als weißer Mann ist ein Ressentiment, hinter dem sich die Feindschaft gegenüber der Zivilisation, der Individualität, des Abstrakten, der Intellektualität und der Reflexion verbirgt.

Kritik sei männlich beinhaltet auch den Vorwurf, die Diskriminierung von Frauen als Nebenwiderspruch zu behandeln. Nach Fourier galt die Emanzipation der Frau als Motor für die Emanzipation der gesamten Gesellschaft. Daran ist festzuhalten. Die zunächst nur von Männern angeeignete und verwirklichte Subjektivität sollte die gesamte Menschheit umfassen, womit auch der verstümmelte Charakter dieser Subjektivität überwunden würde. Aber seitdem ist einiges geschehen. Durch die Rationalisierung der kapitalistischen Gesellschaft zerstörte sich die gerade konstituierte und zunächst auf Männer beschränkte Subjektivität von Anbeginn selbst. Als die Frauen endlich Zugang zur freien und gleichen Rechtsform erkämpfen konnten, war diese unter der Hand auf den Hund gekommen. Das ist das Dilemma des Feminismus bis heute.

Die Nazifaschisten nahmen die Selbstzerstörung des Subjekts in die eigenen Hände, setzten bewusst durch, was nach Marx doch der verborgene Automatismus dieser Gesellschaft sein sollte. Sie zersplitterten die ohnehin schon restlos geschwächten Individuen und schlossen sie im monolithischen Block der Volksgemeinschaft zusammen, indem sich unter dem Banne des autoritären Unstaates nicht nur Kapital und Lohnarbeit, sondern auch Mann und Frau die Hände gaben. Die Frauenorganisationen wurden unter theoretischer und praktischer Mithilfe ihrer Aktivistinnen ebenso eingestampft und geschliffen wie die Vereinigungen der arbeitenden Klasse. An ihre Stelle traten Monstergebilde wie DAF und BDM. Innerhalb des Schutzpanzers (Langerhans) kam es zur Nivellierung der qualitativen Gegensätze, was keine Behebung der quantitativen Unterschiede, sondern vielmehr sogar ihre Verschärfung nach sich zog. Seit dem Nazifaschismus gibt es weder einen qualitativen Unterschied zwischen Kapital und Arbeit noch zwischen Mann und Frau. Die Marginalisierten wurden fest eingebunden. Unterm Banne der Krise formierten die Nazis Herrscher und Beherrschte, Ausbeuter wie Ausgebeutete zum Block. Und: das Modell Deutschland machte Schule. Nie wieder kann sich die Kritik, wenn sie es denn je konnte, per se auf die Seite irgendwelcher Marginalisierter stellen, denn diese haben leider aus der Geschichte gelernt. Sie begreifen sich als Opfer der Zivilisation und schließen sich zusammen, um die Herrschaft des barbarischen Kollektivs gegen die abstrakte Vermittlung durchzusetzen.

Was Männlichkeit und Weiblichkeit betrifft, so schauen die homogenisierten Subjekte sie seit dem Nazifaschismus ihren Leitbildern aus der Kulturindustrie ab. Eine grundlegende Differenz im Sozialisationsprozess existiert nicht mehr. (1) Die von Freud beschriebene Wunde der Kastration, nach orthodoxer Psychoanalyse das Stigma der Weiblichkeit, erfasste die gesamte Gesellschaft, also auch die Männer. Nicht in erster Linie Herrschaft und Ausbeutung, sondern Kastration, Angst und Tod sind die Basiskategorien der neuen Gesellschaft. Der Mann des Nazifaschismus ist kastriert wie zuvor „das Weib“. Und das geht einher mit der Zerstörung der Autonomie und Mündigkeit des Subjekts. Überhaupt noch von „Sozialisation“ zu sprechen ist in diesem Zusammenhang ein Euphemismus.

 

Widersprüche und Patriarchat

Sehr beliebt unter Linken ist die gleichrangige Agitation gegen „Rassismus, Sexismus und Antisemitismus“, verbunden mit dem Vorwurf, antideutsche Ideologiekritik würde Rassismus und Sexismus vernachlässigen. Aber schon diese reine Aufzählung offenbart, dass ein Begriff der jeweiligen Sache nicht existiert. Das Schema ist immer das Gleiche: stets geht es um eine angeblich geschlossene, meist „biodeutsche“, „heteronormative“, „weiße“ und „westliche“ Gemeinschaft, die ihre „Identität“ von einem „Anderen“ her absetzt. Die Problematik der Ideologie wird auf Dominanz zurechtgebogen, herunter gebrochen auf den Normierungseffekt eines Diskriminierungsdiskurses. Besonders – aber durchaus nicht nur – die Kritik des Antisemitismus gerät dabei auf eine schiefe Bahn. Dieser gründet beileibe nicht einfach in der Ausgrenzung des Fremden. Erstens fällt die Unterscheidung zwischen fremd und eigen innerhalb der nazifaschistischen deutschen Volksgemeinschaft, deren Wesen darin bestand, derartige antagonistische Gegensätze einzuschmelzen. Zweitens: als antiwestliche, antizivilisatorische und immer auch antikolonialistische Ideologie steht der Antisemitismus keineswegs in einer Reihe mit Sexismus oder Rassismus. Antisemitismus stellt durchaus keinen affirmativen Bezug auf das Eigene dar, wie etwa Lou Sander im Conne-Island-Newsflyer Cee Ieh unterstellt (Nr. 177). Es verhält sich genau andersherum: der Nazifaschismus kann durchaus als Vorläufer jener heutigen Ideologeme betrachtet werden, die das Fremde, Andere, Vielfältige, die multitude, die Subalterne gegen die Dominanz des Mainstreams (oder „Malestreams“) zu mobilisieren gedenken.

Der Nazifaschismus war gerade selbst das Andere, das Jenseits des Westens, der Aufklärung, der Zivilisation. Der Nazifaschismus, das war die Subalterne an der Macht. Die Deutschen waren die Anderen, die sich von den Juden ausgebeutet, unterdrückt, verwestlicht und kolonisiert fühlten. Antisemitismus lässt sich also durchaus nicht mit Rassismus in eine Reihe stellen, sondern er ist sein explizites Gegenteil.

Ebenso ist die klassisch patriarchale Konstellation, nach der die Frauen für die gebändigte Natur stehen, mit der Errichtung der nazifaschistischen Volksgemeinschaft nicht mehr haltbar. Patriarchale Widerwärtigkeiten durchziehen freilich auch die heutige Gesellschaft, weshalb sie aber noch längst kein Patriarchat ist. Hinterm Festhalten am Patriarchatsbegriff steht ein falsches Verständnis von Gesellschaft. Dazu der Antifaschistische Frauenblock Leipzig (AFBL): „Um den vermeintlich anachronistischen Charakter des Patriarchatsbegriffes […] aufzuzeigen, wird in aktuellen Debatten häufig auf eine eingeschränkte Definition verwiesen. Diese versteht das Patriarchat nur im Sinne einer personalen Herrschaft des Mannes über ‚seine‘ [?] Frau […] In feministischer Kritik wurde der Begriff jedoch schon früh von diesem engen Verständnis abgekoppelt und synonym für jegliche Unterdrückung von Frauen qua Geschlecht verwendet“ (2). Mit demselben Recht ließe sich ein Quadrat als ein Kreis mit vier Ecken bestimmen. Wenn Patriarchat synonym für jegliche Unterdrückung von Frauen qua Geschlecht verwendet wird, dann lässt sich die alles entscheidende Frage, was die Ursache der angesprochenen Unterwerfung ist, nicht mehr stellen. Das Verhältnis der gegenwärtigen Gesellschaft zum Patriarchat ist aber zweifach gebrochen. Zum ersten ist versachlichte Herrschaft etwas völlig anderes als personale. Und mit „Patriarchat“ ist ein Begriff von Gesellschaft gemeint, nie bloß die Verfügung des (einen) Mannes über „seine“ Frau, so ernst sollte man den Begriff schon nehmen. Zum zweiten gab es in der kapitalistischen Gesellschaft auch bezüglich des Geschlechterverhältnisses mit Auschwitz und dem Nazifaschismus einen Bruch. Wer das nicht sehen will, wird sowohl die zivilisatorische Mission der kapitalistischen Gesellschaft verkennen, als auch nicht bemerken, dass diese sich sukzessive selbst zerstört. So kann nicht erkannt werden, dass die Aufgabe materialistischer Gesellschaftskritik demzufolge darin bestehen muss, die Versachlichung gegen ihre barbarische Auflösung zu verteidigen.

 

Queere Barbarei

Ideologiekritik in Verteidigung des Individuums steht konfrontativ zur Diskurstheorie des Dekonstruktivismus, der gegen die materialistische Ideologiekritik nur allzuoft in Anschlag gebracht wird, um die angeblichen Verkürzungen des Ideologiebegriffs marxscher Diktion zu vermeiden. Ideologiekritik betrachtet das Identitätsprinzip als Ausgangspunkt jeder Ideologie. Diskurstheoretisch wird eine Ideologie aber als Wahrheit, ontologisch als direkter Zugang zum „Sein“ formuliert. Das Identitätsprinzip ist jedoch wahr und falsch zugleich. Wahr ist die Herstellung allgemeiner Geltung und falsch die dabei erfolgende Unterwerfung des Besonderen. Der Diskurs aber gilt der Diskurstheorie als materialisiert und damit zur Wahrheit geworden: „Die Macht der Kultur repräsentiert sich […] in Körpern und formt sie wie auf einem Amboss zu der geforderten Gestalt.“ (3) Unabhängig davon könne es keine Wahrheit geben, so der dekonstruktivistische Duktus. Hier ist jede dialektische Spannung getilgt, darin liegt der durchaus affirmative und nicht etwa kritische Charakter der Diskurstheorie. Denn sie erweitert nicht die Ideologiekritik, sondern biegt sie glattweg in ihr Gegenteil um.

Seine immanente Dynamik treibt das Identitätsprinzip in deutscher Konsequenz zur Zerstörung seiner selbst. Wird die innere Spannung der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr ausgehalten, die Vermittlung kassiert, so weitet sich das Identitätsprinzip zur Totalität aus. Die faschisierten Subjekte, die keinen Widerspruch mehr gelten lassen wollen, zerstören noch die blasseste Ahnung einer Identität, um deren Verwirklichung es doch gehen müsste. Genau in dieser Flugbahn liegt das dekonstruktivistische Ansinnen, die Identitäten zertrümmern zu wollen, wie es etwa Katrin Köppert in der Phase 2 fordert: „Erst wenn die Identitätsgrenzen und ‑mauern eingerissen sind, können sich Menschen im Menschlichen treffen und aufeinander zubewegen, da sie nicht in ein Ich und ein Du zu teilen sind, sondern jeder Mensch in seiner komplexen Verortung immer mit jedem anderen Menschen einen Nenner hat und sich Schnittmengen der Kommunikation, des gemeinsamen Wirkens und Kämpfens finden lassen […] Lieber ein Fähnchen im Wind als ein Fels in der Brandung“. (4) Derartiges Vorgehen hintertreibt ideologisch noch einmal, was von der falschen Gesellschaft ohnehin zerschlagen wurde: Nicht als abstrakte sollen sich Menschen laut Köppert begegnen, sondern wirklich echt menschlich. Nicht mal Ich und Du dürfen sie noch kennen. Das Umhergewirbeltsein des Individuums wie ein Fähnchen im Winde wird zum positiven Leitbild verklärt. Die Gesellschaft der Individuen soll sich in einen wabernden Brei auflösen bzw. in diffuse Schnittmengen verwandeln. Niemand noch soll sich im emphatischen Sinne als ein Individuum, ein Mensch, ein abgegrenztes und gerade deshalb einfühlsames Einzelwesen begreifen. Das ist keine Kritik der Identität, sondern der Plan einer Verwirklichung absoluter Geschlossenheit. Wo kein Individuum mehr existiert, fallen Gesellschaft und Subjekt unmittelbar zusammen. Was uns da anempfohlen und in der Phase 2 veröffentlicht wird, ist keine menschliche Utopie, sondern das Horrorszenario einer heraufdämmernden Barbarei.

Die Ideologie wird in der Diskurstheorie schlicht noch einmal bestätigt. Die Liquidation des Individuums wird durch seine dekonstruktivistische Zersplitterung vorangetrieben. So wird den Individuen im „Queerfeminismus“ noch einmal gerade das genommen, was einzig das Moment ihrer Rettung wäre, die Einheit ihrer Individualität, Geschlecht, Lust, Sexualität. Das Subjekt wird theoretisch um seine Substanz gebracht. Vorausgedacht ist all das natürlich bei der Täterschützerin Judith Butler: „Die humanistischen Konzeptionen des Subjekts neigen in erster Linie dazu, eine substanzielle Person zu unterstellen, die als Träger verschiedener […] Attribute auftritt. Eine humanistische feministische Position würde die Geschlechtsidentität als Attribut einer Person begreifen […] (die) als ‚Kern‘ charakterisiert ist und ein universales Vermögen der Vernunft […] bezeichnet“. (5) Es darf bei Butler um keinen Preis einen Kern des Subjekts geben, jeder Humanismus soll verabschiedet werden und die universale Vernunft sowieso. Genau so sieht das postfaschistische Subjekt aus. Wenn das Subjekt dann bei Butler und ihren Gesinnungsfreunden „strategisch“ wieder eingeführt wird, um diverse obskure „Bündnisse“ zwischen „Marginalisierten“ zu schließen, macht das die Sache nicht besser, sondern noch schlechter. Subjektlose Menschen werden als Subjekte losgelassen – das ist die Reaktionsform des Nazifaschismus, das queere Bündnis mit der Hamas ist in dieser Theorie angelegt. Hier zeigt sich praktisch, dass nach Auschwitz die Sympathie mit irgendwelchen Marginalisierten unmöglich geworden ist.

Der liberale Mensch existierte gerade in der Spannung von Individuum und Subjekt. Er hatte sich damit auseinanderzusetzen, dass er sowohl Natur als auch Gesellschaft ist. Im Nazifaschismus aber wird die Natur gestrichen und in ein Diskursprodukt verwandelt: noch die Rasse, angeblich der biologischste unter den Nazibegriffen, wird völlig „gesellschaftlich“ gefasst: Wer Jude ist, bestimme ich, meinte Wiens Bürgermeister Karl Lueger. Rasse wurde wesentlich als „Rassebewusstsein“ gefasst und die Deutschen sollten sich zur Rasse erst noch formen. Jegliche Spannung wird ausgemerzt, das Nichtidentische in seinem eigenen Namen getilgt. Damit wird die – in der Verstümmelung immerhin noch sichtbare – Natur vollends auf Gesellschaft reduziert. Die Schnittmenge zum Dekonstruktivismus ist unübersehbar. Hier wird theoretisch formuliert, was praktisch die Deutschen in Auschwitz vollzogen und was die Hamas, der militante Arm der doch angeblich so unwirksamen, weil nur universitären postcolonial‑, queer- und genderstudies heute in Israel wiederholen will: die Bestätigung des „Philosophem(s) von der reinen Identität als dem Tod“ (6). Einzig im Grabe sind die Subjekte, wie sie von der Diskurstheorie gedacht werden – völlig in Vielfalt aufgelöst und bar jeder Identität und Individualität. Das suicide bombing – und wirklich nicht die queerparty – ist der dekonstruktivistische Akt par excellence. Die diskurstheoretische Aversion gegen die Identität führt zum restlosen Verkommen des Individuums auf die reine Identität – Queerfeminismus ist Antifeminismus. Der AFBL müsste seine Veranstaltung zur „Kritik des linken Antifeminismus“ daher konsequenterweise gegen sich selbst durchführen und nicht gegen jene, denen es im Gegensatz zum Queerfeminismus nicht um die Abschaffung von Frauen (und allen Menschen), sondern um deren Befreiung geht. (7)

Martin Dornis

 

Anmerkungen:

1) vgl. dazu Micha Böhme zur Dialektik der Aufklärung

2) ABFL: Im Verhältnis – Eine Begriffsdiskussion zu heteronormativer Matrix und Patriarchat, in: Phase 2, Nr. 32

3) Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben – Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/ New York 1990, 272

4) Katrin Köppert: Lieber ein Fähnchen im Wind – Radikale queere Theorie stellt geschlechtliche Identitäten grundlegend in Frage, in: Phase 2 Nr. 32

5) Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991, 28

6) Th. W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1998, 355

7) Gemeint ist eine Veranstaltung gleichen Titels, die sich auch gegen die Kritiker des Veranstaltungsverbotes für Justus Wertmüller im Leipziger Conne Island richtet: www​.conne​-island​.de/​t​e​r​m​i​n​/​n​r​3​1​1​5​.​h​tml

 

 

Über die Voraussetzungen der Israelsolidarität

 

Geirrt zu haben, würde ich niemandem vorwerfen. Nicht einsehen zu wollen, das ist das Schlimme, wenn es so weit ist, dass man den Irrtum bis zur Neige gesoffen hat. (Manés Sperber)

 

Es kann nicht schaden, sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, worin der Konsens linker Israelsolidarität besteht. In dem Grundsatzpapier des Bundesarbeitskreises (BAK) Shalom innerhalb der Partei Die Linke brachte man ihn wie folgt auf den Punkt: „Ohne jede Einschränkung bekennen wir uns zum Existenzrecht des Staates Israel innerhalb sicherer […] Grenzen. Ebenso ist das Recht Israels auf Selbstverteidigung gegenüber allen Aggressionen, insbesondere gegenüber islamischem Terror, zu akzeptieren.“ Dass der BAK Shalom mittlerweile in seinem Unterfangen als gescheitert gelten muss, den Konsens linker Israelsolidarität auch zum Parteikonsens zu machen, dürfte sich spätestens nach dem Djihad-Unternehmen vom Frühjahr letzten Jahres, das sich mit dem Namen des Schiffes Mawi Marmara verbindet, herumgesprochen haben. Gescheitert ist der BAK-Shalom insbesondere daran, „ohne jede Einschränkung“ die Anerkennung Israels als jüdischen Staat zur Parteiräson zu machen.

Meine Damen und Herren, nun ist es so, dass mein Eingangszitat gar nicht vom BAK-Shalom oder einer anderen linken Gruppierung stammt, sondern einer Jerusalemer Erklärung entnommen ist, die von Parteien stammt, die inner- und außerhalb der Linken als sogenannte Rechtspopulisten gelten: von der österreichischen FPÖ, dem belgischen Vlaams Belang, den Schwedendemokraten und von der Partei Die Freiheit um den EX-CDUler Rene Stadtkewitz. Bemerkenswert an diesem Zitat ist jedoch, dass es genausogut vom BAK-Shalom, von der Redaktion der Leipziger Zeitung Phase 2 oder aus einer anderen linken Publikation stammen könnte, für die linke Israelsolidarität dem eigenen Bekunden nach eine Selbstverständlichkeit geworden ist.

Es stellt sich die Frage, was im Lager der Rechtspopulisten los ist. Gibt es dort etwa einen Linksruck? Es dürfte klar sein, dass sich eine solche Frage erübrigt. Genauso übrigens wie die unter deutschen Mehrheitslinken beliebte, ob linke Israelsolidarität nicht glasklar für einen Rechtsruck stünde.

Natürlich findet sich in der Erklärung der Rechtspopulisten auch der hässliche Satz: „Das Recht auf Heimat ist ein Menschenrecht, welches für alle Völker zu wahren und umzusetzen ist.“ Ich behaupte aber, dass dieses Heimatrecht bei einem Stadtkewitz unter proisraelischen Vorzeichen nicht annähernd an den völkischen Standard der Mehrheitslinken – und wir reden hier von einer absoluten Mehrheit – heranreichen kann, der auch und gerade den Genossen Gysi einschließt, der in seiner programmatischen Rede von 2008 der deutschen Linken eingeschärft hat, dass Israel als kultureller Fremdkörper im Nahen Osten der Unruheherd sei. (1) Der durch die UN geschaffene und von den Linken geteilte Standard bei der Verteidigung des palästinensischen Rechtes auf Heimat lässt bekanntlich selbst den Heimatbegriff des Bundes der Vertriebenen um Längen hinter sich. Denn bei den Palästinensern ist Heimat ein durch das Völkerrecht legitimierter feudaler Erbtitel auf Blut und Boden und nicht wie etwa bei Frau Steinbach eine Frage schlechter Gesinnung.

Wenn ausgerechnet dem künstlichen Gebilde Israel, die Ausgeburt der Wurzellosigkeit schlechthin, das Heimatrecht zugesprochen wird, dann dürfte es im Lager der Rechtspopulisten um das völkische Denken nicht gerade gut bestellt sein. Denn dass man sich so selbst unterminiert und damit nicht der alte Haufen bleiben kann, weiß man dort vielleicht selbst noch nicht so genau, dafür aber ihre Mitbewerber von der NPD umso genauer. Die nämlich beklagen in ihrem Parteiorgan Deutsche Stimme den Verrat an der Sache, der darin bestünde, dass man nicht „gegen die Landnahme fremder Völkerschaften in Europa“ sein und „gleichzeitig die Vertreibung anderer Völker aus ihrer angestammten Heimat befürworten“ könne (04.01.11). Mit dieser Analyse sind die Nazis klüger als ihre linken Gegner. Im „Netz gegen Nazis“, das vom DFB, der Zeit und Stern bis hin zu Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner Unterstützung erfährt und wegen seiner Chefin Annette Kahane wohl kaum unter dem Verdacht steht antiisraelisch zu sein, ist man sich instinktiv sicher, dass die „Jerusalemer Erklärung“ nichts weiter sei als eine „zeitgemässere Fassung von Rasse-Ideologien des Nationalsozialismus“. Zum Ausdruck kommt in dieser „Analyse“ eine merkwürdige aber typische Antifa-Sicht, die sich auf den Nenner bringen lässt: Seit Adolf hat sich bei den Rechten einem Naturgesetz gleich nichts zu verändern – und basta. Was die kleine Pro-Israel-Fraktion der Linken in dieser Hinsicht vom linken Rest unterscheidet, ist der Glaube an eine fundamentale Veränderung bei den Linken, die es bei den Rechten nicht geben darf. Die konkrete Utopie dieser Wenigen ist der Traum von einer ausnahmslos proisraelischen Linken. Vergessen wird dabei allzu schnell, dass linke Israelsolidarität ein Produkt der Kritik an der Linken und damit nicht die Annäherung ihr gegenüber, sondern die Entfernung von ihrer Ideologie ist. Diese zentrale Voraussetzung der Israelsolidarität wird heute jedoch nahezu flächendeckend von Konkret über Jungle World bis zum Leipziger Conne Island nicht nur ignoriert, sie wurde gar in ihr Gegenteil verkehrt. Diese Verkehrung findet ihren Ausdruck darin, dass man es schon lange nicht mehr mit den konsequenten Kritikern der Linken halten will und sie als Nestbeschmutzer wahrnimmt. Dass die linke Israelsolidarität in den Augen ihrer Protagonisten mittlerweile als ein originär linkes Produkt gilt, liegt paradoxerweise auch in ihrem Erfolg begründet, sich jahrelang gegen eine linke Mehrheit durch rücksichtlose Kritik behauptet zu haben. Aus dieser einstmaligen Rücksichtslosigkeit ist gegenseitige identitäre Rücksichtnahme geworden, bei der nach dem Motto: getrennt marschieren, vereint schlagen die Claims jeweiliger Einflussnahme abgesteckt wurden, damit man sich nicht übermäßig ins Gehege kommt. Anders gesagt: die Israelsolidarität von links hat sich zum legitimen Teil der Linken degradiert und degradieren lassen und ist damit zu einem Widerspruch in sich geworden, den in letzter Zeit kaum jemand besser auf den Punkt brachte wie die Autorin des Conne Island-Newsflyer Cee Ieh namens Susanne in ihrer Tirade gegen Justus Wertmüller. Das Conne Island sei ein Ort, schreibt sie, „an dem das Palituch nicht getragen werden darf, gerade weil er sich als links versteht und damit emanzipatorische Werte verbindet, die nicht mit Antisemitismus zusammengehen. Verständlich, davon ein Teil sein zu wollen“ (12÷10). Das Bedürfnis nach linker Gemeinschaft, das die Autorin offensichtlich für unwiderstehlich hält, paart sich bei ihr mit der – gelinde gesagt – verwegenen Behauptung, links sei gerade dort, wo das Palituch unerwünscht ist. Wenn man diesen Gedanken weiter führen würde, käme allerdings auch Suanne zu verblüffenden Einsichten: Dass die Linken im Weltmaßstab zu 99,5 Prozent nicht nur die berühmten antitautoritären Bauchschmerzen haben dürften, sondern sprichwörtlich auf die Barrikaden gingen, wenn man von ihnen verlangen würde, das Tragen des Palituches uncool zu finden, sollte man, gerade wenn man sich als links versteht, allerdings wissen. Man sollte Susanne zumindest nicht unterstellen, sie leide unter einem vollständigen Realitätsverlust und würde die 0,5 Prozent Restlinken, die sich israelsolidarisch begreifen, auch nur ansatzweise repräsentativ für die Linke halten. Gerade deshalb aber stellt sich die Frage, an wen die Autorin, gesetzt den Fall, sie habe nicht nur sich selbst als die einzige aufrechte Linke überhaupt vor Augen gehabt, gedacht haben könnte. Diese Frage stellt sich um so eindringlicher, je mehr man bedenkt, dass die klaren linken Mehrheitsverhältnisse eigentlich erwarten lassen sollten, dass das Unerwünschtsein des Palituches mit der Kritik an der Linken begründet wird.

Wo also sind die linken Kronzeugen der Israelsolidarität? Sollte es Stalin sein, der als Welt-Chef der alten Linken bekanntlich die Gründung Israels unterstützt hat? Sollte es Ulrike Meinhof sein, von der man als einen Kopf der neuen Linken behauptet, dass sie bis zum 67er Krieg klar israelsolidarisch war? Oder hat Susanne Hans Chaim Meyer vor Augen, besser bekannt als Jean Amery, der vor dem ehrbaren Antisemitismus gewarnt hat?

Was Stalin betrifft, der als genialer linker Stratege, der er zeitlebens war, 1948 Israel als potentielle pro-kommunistische Einflusszone gegen Amerika anerkannte, zur gleichen Zeit zur Zionistenhatz im eigenen Lager blies und 1952 alle Kontakte zu Israel abbrach, so kann Susanne den wohl nicht gemeint haben. Bei uns´ Ulrike kann sie aber auch nicht fündig werden. Bevor Meinhof kurz darauf den „Moshe-Dayan-Faschismus“ in Israel entdeckte, hatte sie zwar den gern zitierten Aufsatz mit dem Titel „Drei Freunde Israels“ geschrieben, in dem sie die Solidarität seitens der europäischen Linken einforderte. Gleichzeitig aber befürwortete sie darin nicht nur den arabischen Nationalismus, von dem sie genau wusste, dass in seinem ideologischen Zentrum der völkische Hass auf Israel steht; sie setzte auch gleich neu-linke Prioritäten im Kampf gegen die Israelsolidarität der Vereinigten Staaten und des Springer-Verlages. (2) Wir sehen, weder auf die alten noch auf die neuen Linken kann sich Susanne berufen. Es bleibt ihr also nur einer, der sich als vereinzelter Linker zugleich als Kritiker der Linken verstand, Jean Amery. Dessen Kritik des linken Antizionismus als ehrbarer Antisemitismus lag eine Hoffnung zugrunde, die Amery zur Tatsache umbog, vermutlich weil er die real existierende Linke sonst nicht einmal bis zu seinem Freitod 1978 ertragen hätte. In seiner berühmten Rede gegen den ehrbaren Antisemitismus befand Amery, die Linke sei zwar „irregeleitet“, „ihrem Wesen nach“ aber sei sie „generös“. Amery weiter: „Es kann nicht, es darf nicht sein, dass die Nachfahren der Heine und Börne, der Marx und Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Gustav Landauer es sind, die den ehrbaren Antisemitismus verbreiten.“ Und doch ist es so!, muss man Amery heute erwidern.

Ob es die Generösität der Linken je gegeben hat bzw. wann sie ihr Ende fand, ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung. Nichts allerdings spricht dafür, dass Linkssein und israelsolidarisch miteinander vereinbar sind wie Amery noch hoffte. Linke Israelsolidarität hat sich im Zuge ihrer Etablierung nicht nur im Conne Island als ein Instrument zum Schönreden der Linken und des identitären Wohlfühlens entpuppt und dient wie im Fall von Susanne der Verharmlosung der Linken als notorischer Feind des jüdischen Staates. Darüberhinaus hat sie gegenüber der Kritik mittlerweile objektiv eine Feigenblattfunktion für die deutsche Linke inne.

Es ist alles andere als ein Bruch mit ihrer Geschichte, wenn die Linke weltweit sich gegen die Kritiker des Islam stellt und nicht an die Seite derer, die er bedroht. So kennen wir es in vergleichbaren Situationen aus der Zeit der Komintern – Stichwort Sozialfaschismusthese oder Hitler-Stalin-Pakt – und so kennen wir es von der „neuen“ Linken beispielsweise im Fall des Iran 1979. Umso erstaunlicher und begrüßenswerter ist es, was auf der rechten Seite passiert. Die Pro-Israel-Haltung, die sich dort breit macht, könnte nicht nur einer Rechten wie wir sie kannten das Ende bereiten. Zugleich ist sie es, um es mit Walter Benjamin zu sagen, die sich offensichtlich einer Erinnerung bemächtigt, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. (3) Denn im Gegensatz zur Linken scheint sie im Kampf gegen die neue Gefahr an der Seite Israels in erster Linie auf die Verteidigung der Freiheit des Einzelnen und nicht wie die Linke auf das Völkerrecht, also auf das Kollektiv zu setzen. Dieser Unterschied ums Ganze lässt sich in der Jerusalemer Erklärung nachlesen: „Nachdem die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts überwunden wurden, sieht sich die Menschheit gegenwärtig einer neuen weltweiten totalitären Bedrohung ausgesetzt: dem fundamentalistischen Islam. Wir betrachten uns als Teil des weltweiten Kampfes der Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten gegenüber allen totalitären Systemen und deren Helfershelfern. Damit stehen wir an vorderster Front des Kampfes für die westlich-demokratische Wertegemeinschaft. Dabei lehnen wir jenen kulturellen Relativismus ab, der unter dem Vorwand der Achtung fremder Kulturen und Traditionen toleriert, dass Menschen, insbesondere nicht-islamische Minderheiten, in Teilen des muslimischen Kulturkreises in ihrem Recht auf Freiheit, Gleichheit und Mitbestimmung eingeschränkt werden. Dies gilt für alle Teile der Welt, selbstverständlich in erster Linie auch für Europa, da die Menschenrechte universell und geografisch unteilbar sind.“

Sicherlich, Papier ist geduldig. Nichts aber spricht dafür, dass man vergleichbare Aussagen in einer linken Erklärung adäquater Bedeutung finden wird, auch und gerade nicht von linken Israelfreunden, die es sich mit ihren GenossInnen nicht verderben wollen. Allein deshalb aber verlangt Israelsolidarität, sich von der Linken zu lösen und nicht sie für die unmögliche Rettung der Linken zu instrumentalisieren. An der Linken festzuhalten, dafür gibt es nur den einen Grund, sie zum Gegenstand der Kritik zu machen. Und nur die Kritik würde auch legitimieren, Orte zu schaffen, an denen ein Palituch nicht getragen werden darf. Dass das Conne Island als Zentrum der Leipziger Linken ein solcher nicht ist, ist hoffentlich deutlich geworden.

Sören Pünjer

 

 

Anmerkungen:

1) Im Frühjahr 2008 hielt Gregor Gysi seine programmatische und viel gelobte Rede „Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel“, in der er forderte: „Israel darf nicht weiter versuchen, kulturell Europa im Nahen Osten zu sein, sondern muss eine kulturelle Macht d e s Nahen Ostens werden.“

2)In dem Aufsatz, der in dem Sammelband Die Würde des Menschen ist antastbar (Berlin 1980) nachzulesen ist, erklärt Meinhof zwar, die „Politik der europäischen Linken (könne) nicht araberfreundlich im Sinne der Araber sein, müsste ihnen den Verzicht auf Palästina abverlangen, die Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel“. Schlussendlich aber stellt sie sich hinter den arabischen Nationalismus, von dem sie nicht wissen wollte, dass dessen Antikommunismus nur eine Form des abgrundtiefen Hasses auf den Westen – also auch auf Israel – war und kein Schönheitsfehler: „Die Solidarität der Linken mit Israel kann sich nicht von den Sympathien der USA und der BILD-Zeitung vereinnahmen lassen, die nicht Israel gilt, sondern eigenen, der Linken gegenüber feindlichen Interessen. Die Solidarität der Linken schließt auch einen Mann wie Moshe Dajan ein, wenn er ermordet werden soll, nicht aber dessen Rechtsradikalismus, seine Eroberungspolitik; so wie sie selbstverständlich mit dem arabischen Nationalismus sympathisiert, nicht aber mit Nassers Kommunistenverfolgung“ (Hervorh. S.P.).

3) In Über den Begriff der Geschichte heißt es bei Benjamin: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“

 

 

Wir Terroristen des Wortes

Gegen öffentliche Zurückhaltung und gesellschaftliche Heuchelei

Theo van Gogh zum Gedenken

 

Im Jahr 2001 hat einer ganz öffentlich das gesagt: „Wenn einer Krebs verdient, dann Paul Rosenmöller, der Anführer der politisch korrekten Niederlande: Mögen sich die Zellen in seinem Kopf zu einem triumphalen Tumor ausbilden […] Laßt uns auf sein Grab pissen“. Wer von Euch wäre auf eine solche Einlassung hin nicht geneigt, über diesen so inbrünstig vorgetragenen Todeswunsch mit dem niederländischen Schriftsteller und Kritiker Leon de Winter, der das Theo van Gogh-Zitat in Deutschland im November 2004 in der Welt bekannt gemacht hat, auszurufen: „Er war ein Paradebeispiel für die Pervertierung des freien Wortes. Seine Tiraden waren verbaler Terrorismus.“ Und wer wäre nicht geneigt auszurufen: Es reicht, mehr brauche ich nicht zu wissen über Theo van Gogh.

 

Zweierlei Umgang mit Krebs

Ich hatte den gerade ermordeten Theo van Gogh damals trotzdem im Verdacht, dass irgendetwas Belangvolles hinter diesem Ausfall stecken müsste und Leon de Winter, der in der Welt nicht mit einem Wort auf den Hintergrund eingegangen ist, traute ich schon zu, dass es um eine Abrechnung ganz anderer Art ging, als die, die van Gogh mit Rosenmöller vorgenommen hatte. Und siehe, mit Hilfe eines Wörterbuchs, eines holländischen Freundes und mit reichlich Neugier ergab sich das: Theo van Gogh hatte sehr wohl Gründe, Paul Rosenmöller, der in den späten 70er Jahren der Vorzeigejüngling der niederländischen radikalen Linken war und danach zum Chef von Grönlinks, den holländischen Grünen, aufstieg, einen mächtigen Gehirntumor zu wünschen.

Alles begann mit Sylvia Millecam, einer von van Gogh geschätzten Schauspielerin, die im Sommer 2001 an Brustkrebs starb. „Die Freundliche, die sich dem Ruhm gegenüber nachlässig zeigte, […] wurde eine jener viel zu vielen, die an naturheilende Quacksalber verkauft wurden. Was muss sie einsam gewesen sein, als aus dem Knubbel in ihrer Brust ein Knoten mit großem K geworden ist und keineswegs eine ‚bakterielle Infektion‘. O Sylvia…“

Wie so ganz anders die Abgeordnete von Groenlinks Tara Singh Varma und ihr Boss. Zwei Tage vor Sylvia Millecams Tod, am 20.07.2001, trat Paul Rosenmöller vor die Öffentlichkeit und verkündete persönlich tief betroffen, dass seine Fraktionskollegin Singh Varma, die zwei Monate davor wegen einer unheilbaren Krebserkrankung ihr Mandat zurückgegeben hatte, ihn und die Partei betrogen hätte. Der von Rosenmöller bereits anno 2000 im Tremolo der Betroffenheit öffentlich angekündigte Krebstod Singh Varmas hatte ein schönes Jahr auf sich warten lassen – bis 2001 auch der letzte merkte, dass die angeblich vom Tode Gezeichnete, die sich groteskerweise im Rollstuhl ins Parlament schieben ließ, putzmunter war. Sie lebt übrigens heute noch. Diese Krebsgeschichte stellte sich als schmutziges Manöver heraus, ausgeheckt von Singh Varma und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Parteiführung um Rosenmöller gedeckt, um Untersuchungen zu verhindern oder klein zu reden, die letztlich doch zu Tage gebracht hatten, dass die Heroine des Kampfes für multikulturelles Zusammenleben nebenher Gelder teils unterschlagen, teils zweckentfremdet hatte. Solche des Staates, solche der Fraktion und, bevor sie Berufspolitikerin wurde, solche aus der Kasse einer Theatergruppe, der sie angehört hatte. Dazu Theo van Gogh: „Worum es geht, ist, dass nicht Tara, sondern Sylvia Krebs bekommen hat, dass nicht Rosenmöller und [Staatsekretär] Van Boxel vorgeführt werden und mit Hohn und Spott in die Wüste geschickt werden, dass das Los der Menschen grausam und unvernünftig ist und dass ich mehr Sympathie für eine bekloppte Märchenerzählerin habe [gemeint ist Singh Varma, J.W.] als für einen Millionär, der in jungen Jahren als Hobby Streiks im Hafen angeführt hat. Wenn einer Krebs verdient hat, dann Paul Rosenmöller… [und weiter wie oben]“. Theo van Goghs Mitleid galt jenen, die vorzeitig aus dem Leben gerissen werden, seine Nachsicht einer in die Enge getriebenen Politikerin, die ihren Ruf durch eine bizarre Lüge retten wollte, seine Empörung einem Politfunktionär, der mit Krankheit und Tod ein skrupelloses Spiel spielte, seine Parteifreundin zu böser Letzt dann doch fallen ließ wie eine heiße Kartoffel und sich dennoch unverdrossen anmaßt, das „bessere Holland“ zu repräsentieren. Soviel zur Pervertierung des Wortes und zum verbalen Terrorismus, soviel aber auch zur Beantwortung der Frage, wer das Bedürfnis hatte, Theo van Gogh aufs Grab zu pissen und warum. Wie beendete noch Leon de Winter seinen Artikel, den er mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat begonnen hatte? „Ein Glaubensfanatiker hat einen krankhaften Provokateur ermordet. Das ist alles irrsinnig vertrackt.“

 

Krankhafte Provokateure

Und damit ist das entscheidende Wort gefallen: Provokateur! Provokateure sollen sie beide sein, der Ermordete und sein djihadistischer Mörder. „Um eine Debatte ging es ihm nicht – worüber hätte er auch mit mir reden sollen?“, fragte Leon de Winter gekränkt und nicht sehr aufrichtig. Dass sie beide in einigen zentralen Fragen nicht nur niederländischer Politik jahrelang einen durchaus verwandten Standpunkt eingenommen haben, unterschlägt er nämlich. Für de Winter, der sich immer wieder hinter Israels Recht auf Selbstverteidigung stellt, die USA verteidigt und Old Europe heftig und immer verdienstvoll kritisiert, hätte es doch ein Leichtes sein müssen, einen Mitstreiter wenigstens posthum zu Aussagen wie diesen zu beglückwünschen: „Von mir aus kann gar nicht genug blinden Scheichs in Allahs Herrlichkeit verholfen werden. Und ich frage mich, ob es noch jemanden gibt, der es wagt zu behaupten, Israel wäre sicherer, wenn Yassin am Leben geblieben wäre. Aber Israel, das sich zu recht verteidigt, soll früher oder später ins Meer getrieben werden. Und die Welt soll zustimmend zuschauen, wenn so eine Rechnung, die seit 1945 offen ist, beglichen wird. Hamas weiß das und freut sich wohl über die immer weniger heimliche Sympathie von Europa. Muss ich dem zustimmen?“ (van Gogh in Metro 18.03.04)

Aber so wie es wohl nur zum kleinen Teil um eine frühere Kränkung geht, spielen offensichtlich auch die durchaus vereinbaren politischen Positionen keine entscheidende Rolle. De Winter spielt in einer ganz anderen Liga als van Gogh es tat. Selbst dem Dunstkreis der niederländischen „linken Kirche“ entstammend und von ihren Vertretern auch jetzt noch anerkannt, wo er sich in Fragen der Außenpolitik als ihr Gegner erweist, fühlt er sich weiterhin diesem Establishment, das sich aufs Durchwursteln verlässt, verbunden. Für einen Vertreter jüdischer Interessen in den Niederlanden erscheint das auf den ersten Blick sogar plausibel. Sollten sich die Auseinandersetzungen zwischen marokkanischen Allochthonen und immer mehr autochthonen Niederländern zuspitzen und das institutionelle Prozedere für die Streitschlichtung versagen, könnte eine Situation entstehen, an der der jüdischen Minderheit in einem europäischen Land nicht gelegen sein kann. Schließlich kann man die Möglichkeit, dass der arabische Antisemitismus in einem plötzlich hochkochenden autochthonen seine Entsprechung finden könnte, auch in den Niederlanden nicht ausschließen. Was aber tun, wenn die arabischen Gesprächspartner oder Milli Görüs bekennende Judenhasser sind und die von ihnen Vertretenen immer öfter zuschlagen, die linke Opposition im Parlament offen israelfeindlich ist und immer mehr Autochthone sich ihrer Einbindung ins Polderhaus Holland entziehen, weil sie die ganze Heuchelei satt haben? Sollte man da nicht aus eigenem Interesse ein wenig zweifeln an Säulen und Institutionen, auch an der eigenen? Weil de Winter zusammen mit der ganzen „linken Kirche“, die zum kleinsten Teil jüdisch ist, solche Zweifel gar nicht erst zulassen will, blieb ihm zuletzt nur das Bekenntnis zu Heuchelei und Zensur: „Mit öffentlicher Zurückhaltung und gesellschaftlicher Heuchelei, zwei Prämissen für ein pflegliches Miteinander, hat er gründlich aufgeräumt. Er wollte sagen, was er dachte, genau wie Pim Fortuyn. Das ist pubertär und sozial gefährlich.“ Solch verlogenes Verhältnis zum freien Wort muss auch in der Redaktion von NRC Handelsblad vorgeherrscht haben, als sie sich entschloss, im August 2004, einen Tag vor der Ausstrahlung des Films „Submission“ im Fernsehen, der von Ayan Hirsi Ali und van Gogh stammt, und drei Monate vor van Goghs Ermordung, das Vorhaben in fetten Lettern so anzukündigen: „Ayaan provoziert schon wieder“. Solche zynischen Prämissen müssen de Winter bewogen haben, sich gegen die Gemeingefahr Theo van Gogh mit dem Verfasser folgender Zeilen zu verbünden: „Die Abgeordneten mögen zur Einhaltung des EU-Sicherheitsratsbeschlusses beschließen, dass die niederländische Regierung im EU-Verbund dazu beiträgt, ein Waffenembargo gegen Israel durchzusetzen, das den effektiven Stopp von Waffenlieferungen und des Transits von Waffenlieferungen beinhaltet. Die niederländische Regierung möge im EU-Verband Vorbereitungen treffen, um das Assoziationsabkommen mit Israel auszusetzen.“ So eingebracht in die niederländische zweite Kammer am 08.10.2002 vom Abgeordneten Rosenmöller, unterstützt von den Fraktionen der Partei von der Arbeit, den linksliberalen D 66, Groenlinks und der Sozialistischen Partei – der linken Kirche also.

 

Ein linkes Kirchlein in Leipzig

Gehen wir nach Leipzig und konkret zum Kronjuwel der dortigen Szene, einem veritablen linken Kirchlein: „Phase 2. erschien zum ersten Mal im Juli 2001. Sie ist der Versuch, eine Zeitung aus der und für die antifaschistische bzw. linksradikale Bewegung zu machen, die die Theorie und Praxis der radikalen Linken weiterentwickelt, begleitet und analysiert. Die Skepsis, ob das nicht auch alle anderen linksradikalen Zeitungsprojekte wollen, mag berechtigt erscheinen. Doch was Phase 2 aus unserer Sicht unterscheidet und notwendig macht, ist, dass sie die bundesweite Organisierung der radikalen Linken vorantreiben will. Denn uns geht es nicht nur um eine Kommentierung der Ereignisse oder theoretischer Unterfütterung von Praxis. Es geht um die Frage, wie die Linke wieder zu einem gesellschaftlich relevanten Faktor werden kann, welche Inhalte die Politik bestimmen sollen und wie dieses Ziel zu erreichen ist.“

Das nenne ich mit Leon de Winter „gesellschaftliche Zurückhaltung und gesellschaftliche Heuchelei“, mithin „zwei Prämissen für ein pflegliches Miteinander.“ Dieser Intro genannte Text ist auf die Gesellschaft bezogen der unbedingte Wille, in ihr mitzumachen und auf die Linke, die es wieder gesellschaftsrelevant zu machen gilt bezogen meint es: alles einsammeln und organisieren, was sich da tummelt, ungeachtet aller Widersprüche. Das heißt einen Sprech und eine Denke zu finden, die niemanden beleidigen oder gar terrorisieren kann, die weit entfernt ist, einem pubertären und sozial gefährlichen Hang nachzugeben und zu sagen, was man sich denkt – eine Denke und ein Sprech also, die geeignet sind, dem freien Wort jenen Dienst zu leisten, den unfreie Geister auf ihrem Weg in die Mitte der Gesellschaft immer schon gemeint haben, wenn sie ihre Reihen und ihre eigenen Gedanken von Provokateuren und Provokationen sauber halten.

Wie das geht, möchte ich an der Figur des Revolutionstheoretikers Frantz Fanon verdeutlichen, den mir vor genau einem Monat hier in Leipzig öffentlich ein Mann als echten Vertreter der westlichen Aufklärung schmackhaft machen wollte. Also reden wir von Inka Sauter und ihrem Aufsatz Zu Frantz Fanons und Edward Saids Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Dekolonisierung, der im Herbst 2010 in der Phase 2 (Nr. 37) erschienen ist und aus dem das linkstheoretisch interessierte Leipzig sein Bescheidwissen über Herrn Fanon bezieht.

 

Fallstricke und Spannungsverhältnisse

So geht’s los: „In der Hochzeit des Imperialismus vom ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg war nahezu die gesamte restliche Welt von Europa ausgehend in Kolonialreiche aufgeteilt. In der heutigen postkolonialen Welt stellt sich die Frage, was der Kolonialismus hinterlassen hat, welche Fallstricke sich für postkoloniale Gesellschaften finden und was vom dichotomen Verhältnis von Kolonisierten und KolonialistInnen fortbesteht. Und grundsätzlicher: Wie ist es um einen universalistischen Anspruch bestellt, der nicht als ein Residuum des kolonialen Wertekanons betrachtet wird? Wie kann ein Humanismus formuliert werden, ohne ein festes Menschenbild anzunehmen, das im kolonialen Verhältnis immer auch das Bild der Europäerin oder des Europäers war.“ Sie will sagen: Der Kolonialismus war sehr böse, aber die sogenannte Entkolonialisierung war auch nicht ohne Fallstricke. Sie will auch sagen: Es muss doch etwas anderes geben als die dezidiert westliche Aufklärung, schon damit der Postkolonialisierte sich nicht immer so gedemütigt vorkommt. Aber sie verhehlt nicht, dass es mit dem Universalismus einer irgendwie antikolonialen Aufklärung nichts Rechtes geworden ist in 60 Jahren der Entkolonialisierung. Und so geht Inka Sauters Artikel zu Ende: „Die westlichen Werte wurden als Herrschaftslegitimation der KolonialistInnen gegen die Kolonisierten in Anschlag gebracht und ihnen zugleich aberkannt. Eine Abwehr dieser Werte, die Medium der Unterdrückung und Abwertung waren, leuchtet daher zwar ein. Aber nur auf dem Fundament eines universalistischen Anspruches kann diese Abwertung expliziert werden.“ So kann man dezent die Wahrheit auf die Heuchelei herunterwirtschaften, so kann man den Hinweis auf die bittere Tatsache unterbringen, dass Entkolonialisierung zumeist materielle und geistige Not größeren Ausmaßes hervorgebracht hat als der Kolonialismus in seiner Spätphase. Und dass allein in Algerien nach der sogenannten Befeiung wahrscheinlich mehr Menschen umgebracht wurden als während des Befreiungskrieges. Doch das putzt man weg, indem man antiwestliche Ressentiments, die daran doch entscheidenden Anteil hatten und haben, dadurch erträglich macht, indem man ausgerechnet dem Westen universalistische Begründungen genau dieser unschönen Bilanz der Entkolonialisierung ablauschen möchte. Inka Sauter weiter: „Und die große Frage bleibt, wie sich ohne die Grundlage westlicher Werte, das heißt der Werte der Aufklärung, ein solcher Anspruch formulieren ließe.“ Ja sie bleibt, die große Frage der Linken seit Frantz Fanon: Wie schlage ich die Aufklärung der Sphäre der Unfreiheit und Unterdrückung zu und legitimiere zugleich mit ihr die Gegenaufklärung?

Aufklärung kann nur westlich und damit universalistisch sein und der Westen kann nicht einfach als Himmelsrichtung und Sammelsurium von Herrschaftspraktiken definiert werden. Das ist schon deshalb zwingend, um ein großes, sehr westliches Buch gegen den Terror des belgischen Kolonialismus im Kongo um 1900, nämlich „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad, den Klauen des postmodernen Kulturrelativisten Edward Said zu entreißen. Auch der ist in den Augen Sauters natürlich kein reiner Held. Sie schreibt groteskerweise zunächst das: „Auch der Anspruch Saids bezieht sich auf ein aufklärerisches Ideal“, um dann ein Aber fallen zu lassen. „Aber er verschiebt die Perspektive weg von der Betonung eines Mindestmaßes an persönlicher Freiheit hin zu der eines Mindestmaßes an kultureller Freiheit. Eine Kritik an solcher Freiheit zur eigenen Kultur wird kurzerhand mit dem Vorwurf des Eurozentrismus abgewehrt.“ Was sollte ein Ideologe, der kulturelle, also kollektive, ja völkischen Eigenschaften gegen die individuellen Freiheiten in Stellung bringt, je mit Aufklärung zu tun haben? Aber weiter zu Fanon: „Während dieses Verhältnis bei Fanon recht offen bleibt, fokussiert Said auf diese Weise eine Freiheit, die auch dazu verleiten kann, verschiedenste Herrschaftsmechanismen zu verdecken oder nicht mehr kritisierbar zu machen. Said sieht dieses Spannungsfeld, entscheidet sich aber dennoch für die Freiheit zur Kultur. In welchem Verhältnis persönliche und politische Freiheit zu dieser stehen, bleibt leider unerklärt. Dieser Mangel droht ein Feld der Willkür gegenüber den Einzelnen zu öffnen.“ Sie meint in verschwiemelten, verharmlosenden, ungenauen Worten den großen, häufig völkischen oder religiös instrumentierten Terror während und vor allem nach der Befreiung, sie meint die Despotien und Kleptokratien, die sich gegenseitig eifersüchtig beäugen aber in der UNO wie ein Mann gegen die Freiheiten ihrer Untertanen auftreten, als Entkolonisierte, die sich den Zumutungen eines Neokolonialismus erwehren müssten, um die autochthoner Kultur ihres Volkes zu bewahren. Und schon ist es Zeit für einen Satz, der zurücknimmt, was gerade doch herausgerutscht ist, es ist wieder Zeit für ein Zuckerl für die Despoten und ihre propagandistischen Handlanger im Westen, die ganz im Zeichen des Hasses auf die Aufklärung heute so daherreden wie eben Inka Sauter: „In einer postkolonialen Welt dürfen die Residuen des Kolonialismus mit seinen Denkformen nicht ignoriert werden. Die Auswirkungen, die er heute zeitigt, sind gravierend“ Man wüsste, gerne, was sie unter diesen Residuen eigentlich versteht. Man weiß aber, dass mit der Autorin die Lesergemeinde schon verstanden hat, dass der Okzident den Orient in einer barbarischen Weise infiltriert und deformiert, ja vergewaltigt hat, dass man sich nur dafür schämen kann, aus dem Westen zu kommen. Dass das Unheil auch und sogar vorwiegend hausgemacht ist und von antiwestlicher Ideologie aus dem geographischen Westen bis heute gedeckt wird, darüber kein Wort. Und so geht’s ganz aufgeklärt zu Ende. „– dennoch darf es nicht um die Entmündigung eines Gegenübers gehen. Wenn es auch keine Patentlösung gibt, so ist die kritische Reflexion auf hierarchische und gewaltförmige Konstellationen notwendig und sollte weder aus der einen noch aus der anderen Perspektive abgewehrt werden.“

 

Frantz Fanons Kampf gegen Kolonialnutten

Lasst uns miteinander reden, keiner hat die Wahrheit gepachtet, die gibt es ja gar nicht. Vielleicht ist es das, was auf den guten Ton einschwört und Theo van Gogh, den „Terroristen des Wortes“, dann auf eine Stufe mit dem Terroristen bringt, der ihn ermordet hat. Selber schuld, warum hat er auch die Wahrheit gesagt, statt gesellschaftlich zulässig und gemeinwohlverpflichtet zu heucheln.

In dem Aufsatz von Ilka Sauter finden sich mehrere Fanon-Zitate, aber keines, das ihn ausweisen würde als einen gar nicht so unfreiwilligen Vorbereiter der autochthonen Kulturhölle, deren erste Opfer die ach so befreiten Frauen und Mädchen sind. Keines, das darauf verweist, dass man mit Fanon im Gepäck besonders gut islamische Revolutionen rechtfertigen kann. Keines, das darüber aufklären würde, dass Frantz Fanons Verhältnis zu Frauen, Liebe und Sex ein ganz und gar vorzivilisatorisches war. Ich zitiere nunmehr den Meister, der wohl kein Terrorist des Wortes ist, wohl aber einer, der den Terroristen der Tat einen kleinen Lehrgang zum Umgang mit Kolonial-Nutten mit auf den Weg gegeben hat: „Als die Besatzungsmacht das Hauptaugenmerk ihrer psychologischen Aktion auf die Algerierinnen richtete, konnte sie natürlich ein paar unmittelbare Erfolge verzeichnen. Hier und dort kommt es vor, dass man eine Algerierin ‚rettet‘. Diese Musterfrauen laufen nun mit nacktem Gesicht und freiem Körper als Münzgeld in der europäischen Gesellschaft Algeriens um. Die Bekehrten steigen in der Achtung der europäischen Gesellschaft. Man beneidet sie; sie werden dem Wohlwollen der Behörden empfohlen. Die Vertreter der Besatzungsmacht fühlen sich nach jedem derartigen Erfolg in ihrer Auffassung bestärkt, dass die Algerierin die Einbruchstelle für die westliche Lebensform in die einheimische Gesellschaft bildet. Jeder abgelegte Schleier eröffnet den Kolonialisten bislang verschlossene Horizonte und zeigt ihnen Stück für Stück das entblößte algerische Fleisch. […] Jeder abgelegte Schleier, jeder Körper, der sich von der traditionellen Fessel des haik befreit, jedes Gesicht, das sich dem frechen und ungeduldigen Blick des Okkupanten darbietet, drückt auf negative Weise aus, dass Algerien beginnt, sich zu verleugnen, und dass es die Vergewaltigung durch den Kolonisator hinnimmt“ (aus Die Verdammten dieser Erde).

Inka Sauter hat zwar im Vorübergehen von Fanons „problematischem Geschlechterbild und seine sexistischen Positionierungen“ gesprochen, scheint also die von mir zitierten Passagen – und es gibt noch weit mehr – zu kennen. Doch den kleinen Schritt von solcher Sexualisierung der Frau, bei gleichzeitiger Unterbindung ihrer frei ausgelebten Sexualität, den Schritt von solcher Orgie der Verklemmung und des Sexualneids hin zum eigentlichen Zweck der peinlichen Übung zu machen, den wagt sie nicht. Die Rolle der kämpfenden Frau, nicht nur in Algerien, die Verwandlung der Frau in eine Kameradin, Mitstreiterin, Schwester, die ihnen als Revolutionsobjekte angetane Übersexualisierung bei gleichzeitigem Verbot, den eigenen privaten Vorlieben nachzugehen, wäre das große nunmehr allerdings hochprovokante Thema, das bei Sauter unterschlagen wird.

Ich pisse nicht auf Frantz Fanons Grab, dessen früher und qualvoller Tod nichts von seiner schrecklichen schriftstellerischen Produktion ungeschehen machen kann. Aber wenn eine Algerierin oder auch ein Algerier, die an der dort vorherrschenden sexuellen Zwangsmoral schier zu Grunde gehen, das heute sagen würde, wie könnt ich sie oder ihn dafür des Terrorismus des Wortes zeihen?

 

Warum Inka Sauter stammelt

Ich empfehle weder das Schimpfen noch halte ich etwas von der Provokation als Selbstzweck. Worum es geht ist ein einigermaßen pfleglicher Umgang mit Sprache. Inka Sauter kann nicht deshalb kein Deutsch, weil es ihr dazu an Begabung fehlen würde. Ihr fehlt es zunächst schlicht an dem Mut, einen provozierenden Gedanken überhaupt zuzulassen und ihn dann auch rücksichtslos zu Ende zu führen. Rücksichtslos gegen sich selbst und die Vorbehalte einer pädagogischen Szene, die die Linke wieder relevant machen will. Das verstehe ich unter freiem Wort. Weil Ilka Sauter oder wer auch immer das nicht wollen darf, ohne sich selber, ihre beruflichen Aspirationen und ihr gleichgeschaltetes Umfeld in Frage zu stellen, wird ihre Sprache formelhaft und unverbindlich. Die Sätze quälen sich dahin, jeder enthält eine Rückversicherung gegenüber dem herrschenden Kanon und liquidiert den manchmal angelegten darüber hinausgehenden Gehalt. Diese dauernden Brüche und Rückversicherungen entspringen nicht der Komplexität des Stoffs, sind nicht dem Amoklauf der Meinung vorgebaut, vor dem ja keiner qua Geburt oder kritischer Praxis immun ist. Dieses verhunzte Deutsch ist die Rache des kritischen Gedankens an den Missbrauchern der Kritik für konformistische Zwecke. Man kann der kritischen Theorie nicht den Gestus entlehnen und zugleich ihr den Gehalt austreiben, ohne dass jenes Pseudodeutsch entstünde, aus dem die Phase 2 gemacht ist. Wer das angreift, auseinanderpflückt und mit der Wahrheit konfrontiert, muss in einer solchen Szene als Terrorist des Wortes empfunden werden. Aus einer solchen zutiefst autoritären Szene, deren Mitglieder übereinander wachen, die jedem Gefügigen sich als Schutzraum anbietet und jeden Widerspruch liquidiert, muss man ausbrechen in Leipzig und anderswo. Die Freundlichkeit, mit der man einander begegnet, vermag nur mühsam den Neid auf die wenigen, die es irgendwie doch in den Universitätsbetrieb geschafft haben, und die Sehnsucht nach einer Gleichheit in Denke, Sprech und Habitus zu verdecken, die endlich dafür Sorge trägt, dass nichts und niemand mehr provoziert. Es ist langweilig und deprimierend in Leipzig. Jeder weiß, dass die Heuchelei ehernes Gesetz ist und das Mittelmaß der Stoff ist, der die Vereinsamten miteinander verbindet. Die einen resignieren, privatisieren, gehen weg, andere versuchen den Befreiungsschlag auf dem Conne-Island-Plenum gegen Justus W.

Dass es in Leipzig viele gibt, die noch etwas vorhaben, weiß ich. Dass es ihnen gelingt, sich gegen Leipzig aufzustellen, wünsche ich ihnen. Dass sie es allein zu Wege bringen müssen, wissen sie selber am besten. Soviel abschließend zum Charakter der heutigen Invasion aus Halle und Berlin.

Justus Wertmüller